Biographie

Christoph Dieckmann wurde am 22.1.1956 in Rathenow geboren, und wuchs auf als evangelischer Pfarrerssohn in Dingelstedt im Harzer Vorland (jetzt Landkreis Halberstadt). Seine Kindheit lag im Spannungsverhältnis von geistigem Innenraum des Elternhauses und der Welt draußen vor den Mauern, abstoßend und lockend zugleich.

"Daß ich zum Volk gehöre, habe ich spät erfahren. Ich wuchs hinter Mauern auf. Sie bargen das mächtige Pfarrhaus, zwei Höfe, ein Wäldchen, den weiten Garten. Draußen um die Mauern lagerte das Dorf, das Volk, die Welt. Über diesen Gegensatz haben etliche Pfarrerskinder geschrieben, auch ich in "Time is on my side" und "Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen"." ("Volk bleibt Volk", S. 10)

Was die Schule an Bildung vermittelte, wurde der kritischen Brechung unterzogen.

"Es mochte ja stimmen, daß nicht Könige, sondern ihre Proletarier das siebentorige Theben erbaut hatten, das goldstrahlende Lima, die Triumphbögen von Rom. Aber niemals konnte, wie behauptet, diese Brechtsche Mahnung von einem lesenden Arbeiter stammen. Arbeiter lasen sowenig wie Bauern, das erfuhr ich in der Stadt." (ebenda S. 22)

1968 - Christoph war 12 Jahre alt - zog die Familie nach Sangerhausen, wo der Vater eine neue Pfarrstelle antrat (s. dazu auch "Die ZEIT", 22/2005). Im Herrschaftsbereich einer Schulrätin, die der Publizist später als Hilde Benjamin oder auch Margot Honecker auf Provinzniveau titulierte, war den Pastorenkindern, die sich von der FDJ fern hielten, der Weg zum Abitur versperrt.So folgen die Jahre des Landfilms. Der junge Mann erlernte den Beruf des Filmvorführers (Filmwiedergabetechniker). So wird im folgenden Zitat auch der Titel eines ostdeutschen Schlüsselfilms von Konrad Wolf zitiert.

"Ich war damals neunzehn. Als mein Vater neunzehn war, begann der Zweite Weltkrieg. Ich wurde Filmvorführer, er Soldat. Gemessen an den Tragödien unserer Elterngeneration stammen wir eingeborenen DDRler aus völlig harmlosen Zeiten." ("Das wahre Leben im Falschen", S. 234)

Christoph Dieckmann studierte Theologie in Leipzig und Berlin (Ost). Einer seiner Dozenten war der spätere Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann. Seine Mitstudenten waren die späteren SPD-Politiker Steffen Reiche und Thomas Krüger. Im Januar 1990 enttäuschen sie ihn:

"Dann kam Honecker nach Rummelsburg. Sein Volk kriegt Freispruch durch die neuen Polit-Juristen, die unsere Stimme wollen, und Ablaß durch Partei-Theologen - viele davon ehemals meine Kommilitonen. Sie waren damals anders - ohne diese neureiche Mächtigkeit und weder auf Masse erpicht noch auf Ideologie. Ihre Logik sah hinter den Augenschein, und was Recht sei, bemaß sich barmherzig nach den Schwächeren im Land, zu denen wir selbst gehörten. Der Luxemburg-Spruch. Man kannte Höheres als die Zwangsvorstellungen eines Staates, dem seine Pfarrer einen oppositionellen Opportunismus abtrotzten und viele Kompromisse. Theologe, so machten wir uns gegenseitig Mut, sei der freieste Beruf der Welt. Nun ja. 'Was gibt's Schöneres auf Erden, als Politiker zu werden. Prost! Es lebe die! Frisch und fromm und steuerfrei.' Nur der Berlin-brandenburgische Bischof Gottfried Forck, um Populismus schon immer weniger besorgt als um seinen Glauben, hat dem Ehepaar Honecker kirchlichen Wohnraum angeboten. Laßt den alten Mann nach Hause! Es ist vorbei. Ich fürchte nicht mehr den alten Apparat. Ich fürchte die Konterrevolution durch kollektive Verdrängung. Das hat Spätfolgen. Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Fluch." ("Rückwärts immer", S.214)

Nach dem Studium folgte 1982-83kein Vikariat in Berlin-Buch. Nach einer Tätigkeit bei der theologischen Studienabteilung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und wurde 1986 Medienreferent des Ökumenisch-Missionarischen Zentrums / Berliner Missionsgemeinschaft und entwickelte sich allmählich zum Publizisten. In der "Kirchenzeitung" schrieb er für die Rubrik "Gedanken zu einem Film".

Als die "deutsche bürokratische Republik" ihrer unbefriedigten Jugend mit Großkonzerten westlicher Rockidole einige Zuckerbrote reichte, begann er 1987 für die Kulturbund-Zeitung "Sonntag" Kritiken zu schreiben. Autobiografisch schreibt C. D.:

"Reinhard Henkys und Matthias Hartmann vom (westdeutschen) Gemeinschafts-werk für evangelische Publizistik ermutigten mich, ab 1985 für die (West)Zeitschrift 'Kirche im Sozialismus' Essays zur Situation in der DDR zu verfassen. Hans-Jürgen Röder vom (westdeutschen) Evangelischen Pressedienst schmuggelte diese Texte nach West-Berlin. Und Adelheid Wedel und Peter Jastrow verschafften mir ein DDR-Podium jen-seits der Kirchenpresse, indem sie mich ab 1987 im "Sonn-tag" über Rockmusik schreiben ließen und über das, was sich damit verband." ("My Generation", S.224)

Weil diese Zeitungsbeiträge sich auch heute noch spannend lesen, wurden sie (ergänzt durch die Auslassungen der Erstveröffentlichung) im Buch "My generation : Cocker, Dylan, Lindenberg und die verlorene Zeit" zusammengefasst. U. a. geht es um die Auftritte von Wishbone Ash,, John Mayall, Carlos Santana, Bob Dylan, Uriah Heep, und Depeche Mode, Joe Cocker, Canned Heat, Udo Lindenberg und Bruce Springsteen. Über sich selbst schreibt er ebenda S.14:

"Ich schrieb nicht im Samisdat, sondern in der Kirchenpresse und im "Sonntag", der immer Charakter bewahrte. Ich hatte das Dach der Kirche über mir; vieler Stumpfsinn blieb mir erspart und damit auch manche Wut. Ich wollte keine Bitternis verbreiten, aber Wahrheit und, wenn mög-lich, dennoch etwas Schönes. Musik war ein populäres Vehikel für allerlei Transporte."

Seit 1990 war er zunächst freier Autor, beim "Sonntag" (später "Freitag") und wurde 1991 Redakteur und - so Dieckmann über Dieckmann - "Quoten-Ossi" im Berliner Büro der Wochenzeitschrift "Die ZEIT", hielt aber auch der Ost-West-Wochenzeitung FREITAG die Treue. Dieser gab er für Heft 41/2003 auch ein lesenswertes Interview.

Seine Reportagen und Geschichten ragen aus dem publizistischen Alltagsgeschäft weit heraus und daher ist es nur folgerichtig, den akumulierten Schatz hin und wieder zwischen Buchdeckel zu bringen. Der Autor konnte damit eine Reihe geachtete Preise erlangen:

Werke und Preise

SprungÜberspringen!   RücksprungNach oben!

Dieckmanns Stamm-Verlag ist der Christoph Links Verlag Berlin:

Zurück zum Ablaufplan!

Die Bücher

Olle DDR : eine Welt von gestern. Fotographiert von Volker Döring. Beschrieben von Friedrich Schorlemmer und Christoph Dieckmann. Hrgsg. von Helmut Fensch - Henschel Verlag Berlin 1990, 1993

My generation : Cocker, Dylan, Lindenberg und die verlorene Zeit
Christoph Links Verlag, Berlin 1991

"Oh! Great! Wonderful!" : Anfänger in Amerika
Christoph Links Verlag, Berlin 1992

Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen : Geschichten aus der deutschen Murkelei
Christoph Links Verlag, Berlin 1993

(Mit Wolfgang Niedecken) Alles im Eimer, alles im Lot : ein Gespräch
Verlag Volk und Welt, Berlin 1994

Time is on my side : ein deutsches Heimatbuch
Christoph Links Verlag, Berlin 1995

Das wahre Leben im falschen : Geschichten von ostdeutscher Identität
Christoph Links Verlag, Berlin 1998

Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen : Geschichten aus der deutschen Murkelei
2., [korrigierte] Aufl. Christoph Links Verlag 1999

My generation : Cocker, Dylan, Honecker und die bleibende Zeit
Christoph Links Verlag, Berlin 1999

Hinter den sieben Bergen : Geschichten aus der deutschen Murkelei
Deutscher Taschenbuch-Verlag München 2000

Volk bleibt Volk : deutsche Geschichten
Christoph Links Verlag Berlin 2001

Die Liebe in den Zeiten des Landfilms : eigens erlebte Geschichten
Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2002

Rückwärts immer : deutsches Erinnern ; Erzählungen und Reportagen
Christoph Links Verlag, Berlin 2005
und: Gesamttitel: Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung ; Bd. 500
Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2005

Ein Audio-Buch

Christoph Dieckmann liest aus "Das wahre Leben im Falschen"
Produktion: Mitteldeutscher Rundfunk Leipzig, Redaktion und Regie Katrin Wenzel
Der Audio-Verlag, Berlin 2002

Zusammengestellt nach: Online-Katalog der Deutschen Bibliothek

Querlese

Das folgende ist eine Zitatenbesprechung, die versucht, ein Koordinatensystem unseres Autors zu bestimmen. Das geht auf Kosten der konkret-sinnlichen Geschichten, an die er sich lieber hält als an die Abstraktion, die immer Gefahr läuft, in Ideologie zu münden.

1. Rock'n Roll als Grundton und Haltung

Sprung

"Jeder Mensch, vermute ich, erwirbt sehr früh eine musikalische Ur-Gram-matik, die ihn sein Lebtag beheimelt. Bei mir ist das die Moll-Choralik angloamerikanischer Provinzmusik: Folk, Bluegrass, Rootsrock, Alternative Country." ("My Generation", S.229)

In den autobiographischen Anmerkungen offenbart sich Christoph Dieckmann als Radiohörer (viel Hessischer Rundfunk), der, was er mag, gut dokumentiert auf Tonband festhält. Später kann er auch die Sehnsucht nach physischer Nähe zu seinen Idolen befriedigen: als Konzertbesucher und Journalist. Es geht um Identitätsstiftung, wenn er zu einem Konzert eigens nach Heilbronn fährt.

"Und wie gut, daß Hennemans Band nicht Millionen verkauft, weil man unmöglich als sein Geheimnis lieben kann, was bei Mc Donald's blökt, auf Hitradio oder aus dem Techno-Blaster in der Straßenbahn. Aber warum dominiert der Schrott? - Unbeirrbar ist der Wunsch der meisten Menschen, sich als mainstream zu empfinden: Mehrheit sein. Mitmachen dürfen. Im Trend liegen. Fressen, was die Kelle gibt. Eigensinn macht einsam. Volk bleibt Volk, das ist bewiesen." (Volk bleibt Volk", S. 232)

Dieser auf Bodenständigkeit bedachte Eigensinn ist der Energiequell des "Brillenmenschen" und schafft ihm Heimat.

"Kunst nährt sich von Mangel. Das Weh ist ihr Prinzip. Kein Hund bellt mit dem Knochen im Maul. Rock muß Musik sein von dem, was fehlt. Rock minus Mangel gleich Mike Krüger. Blues und Rock sind Heiler - und kratzen schon wieder am Schorf. Kein Künstler will je "gesunden"; das wäre sein Ende als Prophet und sein Start als Plapper-Popper." ("My Generation", S.146)

Erstaunlich modern liest sich, was Dieckmann 1988 für den "Sonntag" schrieb.

"Was bleibt von Cocker in Berlin und Dresden? Schon hat uns das poppige Radio wieder, das plappernde, das zappelnde Getön mit der krankhaft guten Laune. Mich ekelt vor diesem mageren Fraß. Vielleicht ist mehr "Lockerheit" am Platze, nicht soviel Moral. Aber ich wünsche doch, daß Rock'n'Roll, meine Lieblingskunst, von hellen und dunkelsten Stunden handle, von 'It's a beautiful day' und 'Last night the music saved my life'." ("My Generation", S.58-59)

Und ob im Fußball oder dem Rock'n Roll - die Provinz ist der gewollte heimatliche Boden:

"Und ich schreibe dies dort, wo die Musik her-kommt und wo sie immer hinwollten, und ich kann auch hier in Amerika nicht finden, daß meine DDR-Lieblingsband nur eine Kopie sei. Oder ich müßte mein gelebtes DDR-Leben über Bord werfen, als Abklatsch und Verlust, wie es derzeit so viele tun. Rockmusik als biographische Kunst hängt an jener Zeit, in der wir an sie glauben. Monokel erinnert mich immer daran, was auf ganz andere Art Christa Wolf oder der Regisseur Heiner Carow oder die Kirche spüren ließen: daß eine enge Welt sich ungeahnt weiten läßt, wenn man sich sich selber folgt und nicht den Diktaten der Umstände. Freiheit ist relativ, Wahrheit keineswegs." ("My Generation", S.135)

2. Fußball - die Obsession

Rücksprung   Sprung

Die Leidenschaft ist verortet: FC Carl Zeiss Jena. Und sie kann auch in musikalischen Bildern erklärt werden.

"Heute ist Jena ein Bluesverein. Ich bin ihm treu, weil mich kein zweiter Club auf diesem Erdenrund so traurig machen kann. Fürs Jubelvolk gibt's Bayern München, die neureiche Hertha und auf Sät l "ran", die Fußballtötungsshow. Ich ersehne den Tag, da die Menschheit begreift, daß die Fernsehübertragung von Fußballspielen ebenso abwegig ist wie die von Herzoperationen. Fußball findet im Stadion statt, nicht auf der Couch. Der Jena-Fan weiß das. Der Jena-Fan geht in keiner opportunistischen Masse auf. Einsam schreitet der Jena-Fan über diese Welt."

Fußballreporter - das war der frühe Berufswunsch, der sich am Radio nährte und dann auch gelebt wurde. Wenn einer so naiv verschlagen und unbedingt auf seinen Reporterberuf zustürmte wie der junge Dieckmann, konnte man auch in der sicherheitsverwahrten DDR Absperrungen und Barrieren überwinden, wie er es tat an jenem 16. September 1971, als sich dieser 16-jährige Schüler mit Kassettenrecorder und Mikrofon in Halle mitten in die abgeschottete Manschaft des FC Eindhoven hinein katapultierte. Auf jenem Tag müssen wir wohl die Geburt des Reporters C. D. datieren.

Es wurde kein großes Spiel. Halle hatte Respekt, und die Holländer kontrollierten alles ganz zufrieden, so daß der Junge mit dem Mikrophon viel Raunen und Stöhnen aufnehmen konnte, aber nicht den Großen Schrei. Als es vorbei war und die Massen heimwärts schoben, drängte der Junge gegen den Strom hinab zum Innenraum und sprang über die Brüstung auf die Aschenbahn. Die Ordner, ältere Männer, ergriffen ihn. Er zeigte ihnen das Tonbandgerät. Sie lachten und schoben ihn in den Kabinengang. Halles Spieler kamen aus der Dusche: der bissige Riedl mit dem lädierten Bein, Meinert, der Schrank, der seriöse Kapitän Bransch. Dem großen Klaus Urbanczyk rutschte das Handtuch. Splitternackt schrieb er das Autogramm.
Auch die Holländer spendeten Autogramme, schwungvolle Kringel, kaum zu entziffern. Anders als in der sozialistischen Sportbewegung wurden im Kapitalismus die Stars wohl nicht zur leserlichen Unterschrift erzogen. Endlich Jan van Beveren, Devrindt gleich dahinter. Mit fliegender Hand hob ihnen der Junge das Mikrophon vor die Nase.
Sind Sie zufrieden mit dem Unentschieden?
Wenn man als Torwart Nullen behalt, is gutt, sagte van Beveren.
Wie lautet Ihr Tip für das Rückspiel?
Wollen wir ja gewinnen, sagte Devrindt.
Jaja, sagte van Beveren.
Wie gefällt Ihnen Halle?
Wir haben noch nicht so viel gesehen, sagte Devrindt.
Ich glaub is gutt hier, sagte van Beveren, worauf ein Herr im Anzug erschien und dem Jungen erklärte, seine Spieler müßten jetzt ins Hotel.
Wer sind Sie? fragte der Junge und hielt ihm die Autogrammkarte hin.
Ich bin der Manager vom PSV Eindhoven, sagte der Herr und unterschrieb ganz leserlich: Bernardus van Geldern.
Da wagte der Junge zu fragen: Haben Sie bitte ein Clubabzeichen für mich?
Bernardus van Geldern betrachtete den Pulk von Autogrammjägern, der die Szene gierig verfolgte, und sagte leise: Hier ist nicht so gut. Kommen Sie ins Hotel, da geb' ich Ihnen eins.
Ins Hotel. In welches? Der holländische Bus war fort. Der Junge fragte einen Kerl nach Halles bester Bleibe, wo möglichst auch ausländische Westsportler wohnten. Interhotel, entschied der Befragte, roch nach Schnaps und zeigte sich erbötig zur Begleitung.
Der Suffke kannte die schrägsten Abkürzungen, die finstersten Gassen. Er plapperte trunkenen Stuß, er trug dem Jungen sogar die Tasche, er legte ihm die Pranke auf die Schulter und fuhr ihm seltsam freundlich durch das lange Haar. Dann sagte er: Das war's.
Wo ist denn das Hotel?
Täubchen, du pennst bei mir. Du bist 'ne ganz Scharfe. Das wird unsere Nacht.
Ich muß ins Interhotel, sagte der Junge entsetzt. Ich bin doch ein Junge." ("Das wahre Leben im Falschen", S.10 f.)

Ob er ans Ziel gekommen ist, steht im Buche. Mit dem Fußball jedenfalls und zu vörderst dem FC Carl Zeiß Jena, da hat er es, das ist manisch, damit möchte er kokett nerven, scheint es. Nehmen wir nur den kleinen, dem "Wahren Leben im falschen" vorangestellten Text:

"Lyon ist die kleine Schwester von Paris, Sie prunkt nicht, sie will entdeckt werden, Das antike Amphitheater, Die Kathedrale St. Jean, Hochzeitskirche von Henri Quatre und Maria Medici, Die pastellgetünchten Renaissance-Quartiere, die maurischen Höfe, die Katakombengänge, Und wer mit der Seilbahn den Berg zur marmorweißen Basilika de Fourviere emporfährt und von der Terrasse Lyon überblickt, wie Rhone und Saöne es umfließen, der fragt sich unweigerlich: Wie spielt Jena heute abend gegen Gütersloh?"

Diejenigen, welche die vorgegebenen Regeln opportunistisch einhalten, gibt es hier und heute wie es sie gab damals und ostseits. Sich darüber hinweg zu setzen war und ist riskant. Was Christoph D. 1971 in Halle fertig brachte, wiederholte er Jahre später in Berlin bei der Friedensfahrt, der Tour de France des Ostens. Nachzulesen ist die ganze Geschichte in "Rückwärts immer" S. 76 ff. Hier die Kernepisode.

"Die Fahrer verspäteten sich, die Karl-Marx-Allee blieb abgesperrt, die Massen harrten aus und starrten hinüber zur Tribüne, zur Macht. Plärrte Musik? Überplapperte ein Conferencier das Warten? Nichts davon meldet die Erinnerung, nur Starre und Stille. Mischt sich jüngeres Wissen in das alte Bild? Reproduziert mir das Gedächtnis die Agonie der demoralisierten DDR? Mich überkam's. Ich schlüpfte unter dem Sperrband hindurch und lief, quer durch das verbotene Areal, zügig in Richtung Tribüne. Bürger! rief ein Polizist. Bürger, halt, verboten! Aber keiner griff mich, niemand hielt mich auf mit meiner kofferigen Ledertasche, die den Photoapparat verbarg. Weiter, dachte ich, ängstlich vergnügt, nur weiter, nur nicht stehenbleiben. Vor mir wuchs die Tribüne. Einer fehlte da oben: Honecker. Seine Politbüro-Gesellen lehnten müde an der Brüstung der standen mißmutig vor sich hin. Ich sah ihr Alter und ihr Desinteresse und daß sie halbmeterhohe Kunstnelken hielten, mit Stengeln aus Draht, die müßten sie gleich schwenken, wenn Olaf Ludwig käme. Vorerst kam nur ich, das Volk. Ich dachte: Was ist eure Macht? Was spürt ihr, was ersehnt ihr noch, so alt und ohne Freude? (...)
Der Bannkreis war betreten. Sie starrten auf mich herab - Krenz, Mielke, Stoph, Dohlus, Hager, Keßler, Mückenberger, Sindermann, der immer lachte, doch jetzt nicht, jetzt wuchs auch sein Befremden über das nahende Subjekt mit der Tasche und dem NATO-Parka. Es mußte etwas geschehen. In der kritischen Sekunde stoppte ich und entbot einen kleinen Kratzfuß. Grüßend hoben die Genossen ihre Nelken. Ich griff in die Tasche und zeigte die Kamera. Ich legte an, da lachten die Genossen mit ihrem Zeitungsgesicht. Ich knipste, knickste abermals und winkte solidarisch zur Macht empor. Huldvoll winkte die Macht zurück. Ich machte kehrt und lief zurück hinter die Sperre.
Bürger, sagte der Polizist, der mich nicht hatte stoppen können. Bürger, Sie öffnen bitte mal sofort die Tasche.
Da ist aber nichts drin. : --H ;.
Ich sagte öffnen.
(Ich öffnete.
Da ist ja nichts drin.
Sag ich doch.
(Er überlegte.) Wo gibt's denn solche schönen Taschen?
Die ist handgemacht, von einem Sattler aus dem Harz.
Das ist ja ganz schön weit. (Er überlegte wieder.) Bürger, warum haben Sie unbefugt den Sperrbereich betreten?
Ich wollte die führenden Genossen mal persönlich erleben dürfen. Ich wollte mir ein Bild machen gewissermaßen, wie man so sagt.
Und nun haben Sie sich ein Bild gemacht.
O ja, ich bin ganz glücklich.
Ich müßte jetzt eigentlich Ihren Film einziehen.
Bitte nicht. Die führenden Genossen haben sich so gefreut, als ich kam.
Was haben Sie mit dem Bildmaterial vor?
Das gucke ich mir an.
Angucken, so. Und dann?
Dann kommt es in mein Sportalbum. Wissen Sie, daß Erich Honecker begeisterter Turner war?
Honecker ist doch heute gar nicht da.
Genossen Honecker knipse ich beim nächsten Mal.
Ganz bestimmt nicht in meinem Sicherungsbereich.
Dann schneide ich mir ein Honecker-Bild aus der Zeitung aus. Manchmal ist ja eins drin.

Was immer an dieser Geschichte fabuliert sein mag, so war sie möglich. Viele gingen auch anders aus. Dieckmann wäre der Letzte, der das verkleistert.

Zurück aber noch mal zum Fußball und Carl Zeiß Jena. Hier vererdet sich der Intellektuelle Dieckmann emotional.

"Soweit die Fakten. Aber Fußball ist ein innerlicher Sport. Seelische Gesetze gelten, Ahnungen, Orakel und Komplexe, Bußgelübde, Zahlenketten und Tabellen untoter Vergangenheit. Hochmut kommt vor dem Fall, Demut wirkt Lohn, Angst schafft Glück, und ewig singen die Wälder. Der echte Fußballfan untersteht dem Karma seines Clubs wie der Indianer den Geistern der Natur." ("Das Wahre Leben im Falschen", S.214-215)

Aber es geht ums große Ganze, wenn Dieckmann Trainer Frank Engel zur Lage der Fußballnation zitiert.

"Zweierlei Fußball unterscheidet Engel. Die Idole stammen aus den superreichen Fernsehvereinen, die anfaßlichen Stars erleuchten die Region, die 2. Bundesliga, Jena. Nichts geht mehr nach oben ohne Geld, bedauert Engel. Aus dem Landesmeisterpokal ist der Goldesel Champions-League geworden, eine Euro-Meisterschaft ohne kleine Fußball-Länder. Vielleicht folgt bald die Weltliga und irgendwann der Fußballwanderzirkus wie im Tennis und in der Formel 1. Das wäre, findet Engel, der Untergang des Fußballs, der Heimat stiftet und Schlosser und Bankdirektor zu ranggleichen Stadtbürgern macht: zu Jenafans." (ebenda S. 206)

3. Heimat.

Rücksprung  Sprung

Auch hier geht es um Erdverbundenheit.

"Ohne Nation existiert keine Verantwortungsgeschichte, so wie ein Dorf verludert, das alle drei Jahre die Bewohner tauscht. Ostdeutsch ist ein Unterparagraph von deutsch. Daß aber Deutschtum relativ sei, ein Zählerchen des Nenners Europa, das ist rot-grüner Protestantismus, das ahnt nicht, welch mythischer Reichsbegriff noch immer im Deutschinneren Kyffhäusergefühle entflammt: ethnos statt demos Volk." ("Volk bleibt Volk", S. 101-102)

Das zu konstatieren heißt nicht, sich davon vereinnahmen zu lassen.

"Nur wo man das Land als Staat vermeiden konnte, blieb es Heimat." ("Das wahre Leben im Falschen", S.78)

Aber auf den Staat lässt sich die DDR nicht reduzieren. Niemand mahnt deutlicher ein, sich der staatlich bestimmten aber doch eben gelebten Gesellschaft zu stellen, als dieser Staatsverweigerer.

"ich werde noch lange befangen sein von DDR. Ich habe sie verlängert. Ich bin aus dem deutsch-deutschen Expreß gesprungen, denn ich kann nicht so schnell. Ich weiß, daß es vorbei ist mit uns, und habe wütende Phantomschmerzen." ("My Generation", S. 21)

Sein Zorn richtet sich auf die Selbstzerstörung der DDR - oder findet solches nur mein Bedürfnis nach Gleichklang?

"immer strikter wurden alle Eigentümerfunktionen, alle Machtpositionen, alle geistigen Kräfte ins administrative Zentrum einberufen. All diese Energien müssen resozialisiert werden. Um zu genesen, brauchen wir keine Kapitalisierung, sondern eine Sozialgesellschaft, in der die Menschen das Trauma des kindlichen Bürgers verlieren. Ein populistisches l'etat c'est moi muß her gegen Volkszorns traurige Propaganda, wir hätten vierzig verlorene Jahre als Hammelherde in der Wüste gegrast und müßten nun endlich westwärts, ins verheißene Land. Dieser Staat entwickelte Eigenes.
Erstens übernahm die DDR per Staatsdoktrin und de facto historische Pflichten, denen sich die Bundesrepublik weit weniger rigoros unterwarf: Antifaschismus und soziale Garantie. Dies sind die idealistischen Wurzeln; ohne das macht die DDR keinen Sinn, darin stimmen SED und Opposition überein.
Zweitens ging unserer Krise Entwicklung voraus, "und sie ist jenen zu verdanken, die in den Grundstrukturen dieses Sozialismus für wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, sozialen und politischen wie geistigen Fortschritt gekämpft, tagtäglich das Sinnvolle getan und das Unsinnige unterlassen haben. Es waren jene, die die stalinistischen Auswüchse und Verbrechen in unserem Lande minimierten, die unserer Wirtschaft immer wieder von neuem eine soziale Orientierung gaben, um Bildung, Gesundheit, Kultur gegen alle Widerstände dieses Systems stritten, Kompromisse eingingen und dadurch das Mögliche erreichten. Dafür muß Achtung da sein und Dank. Ohne sie hätte dieses System seine gefährliche Logik allseitiger Enteignung und Entfremdung voll entfalten können, ohne sie wäre ein Aufbruch aus dieser Krise zu einem neuen Sozialismus nicht einmal möglich." ("My Generation", S. 200-201)

So geht die Trennlinie nicht zwischen Partei/Staat auf der einen und Volk auf der anderen Seite, eine Sicht, die C.Dieckmann u. a. mit Daniela Dahn teilt. Bei ihm schon 1990:

"Das sind wichtige Sentimentalitäten, jetzt, da allein die Obergärtner unserer blühenden Republik zu Sündenböcken werden, als wären wir nicht mitgedackelt. (...) der Riß in unserem Land geht nicht durch "das Volk" auf der einen und 2,3 Millionen SED-Mitglieder auf der anderen Seite. Er spaltet jene, die für Erneuerung arbeiten wollen, von denen, die "dem Staat" so indifferent gegenübertreten, wie er das mit ihnen immer tat." (My Generation", S. 202.

Darin liegt sein Dissens mit den Antipoden des Staates, die sich aus ihrer antinomischen Rolle nicht mehr heraus zu entwickeln vermögen.

"Es ist den ehemaligen Bürgerrechtlern viel feiger Hohn zuteil geworden. Eins aber war ihr Fehler: die apodiktische Bestimmung dessen, was unser aller Vergangenheit gewesen sei. Könnten die untoten Zerschmetterer der DDR (vormals ihre Utopisten) nicht endlich ganz unrepräsentativ ihr eigenes Glück und Glas beschreiben? Ihr höchstpersönliches, durch keinerlei geschichtlichen Sieg alimentiertes lost and found Ihre Kinderlandschaft inklusive Wetter und Fußballverein, statt immerzu das Individuelle für das Mindere zu halten, wie der Staat sie lehrte, den sie tapferer bekämpften als unsereins? Vielleicht geht das nicht: Dichter und Kämpfer zu sein. Vielleicht sind beide unterschieden wie Betrachtung und Tat. Vielleicht empört den moralischen Täter, daß der Betrachter, ewiger Reaktionär, alles genießt, was er beschreibt. Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn ... Gerade mißratenes Leben gelingt ja als Text." ("Das wahre Leben im Falschen", S.34-35)

War Christoph Dieckmann in den Zeiten der DDR eher im kirchlichen Raum zu Hause, so hat er diesen nicht als Biotop verinnerlicht und er sieht im politischen Dasein mancher ehemaliger Weggefährten eher Preisgabe von Idealen.

"Echter Protestantismus taugt eben nicht zur Mehrheit; er lebt von dem, was fehlt - wie Kunst, die Partei nehmen, nicht Partei sein kann. Ihr Amt bleibt, Mut gegen die Riesen zu machen, zu zeigen, daß Ideologien, Parteien und alle Politik relativ und ohne letzte Größe sind." ("My Generation", 217), geschrieben im Frühjahr 1990!

Es geht darum, ob man den Selbstbehauptungswillen des Ostens ins geeinte Deutschland integriert oder dieses auf einen Triumph des Westens reduziert, der den Osten nur zerstören und zur Problemzone machen kann.

"Wir sind doch alle Deutsche, vernahm er, wieder siegend, 1990; das Moskowiter SED-Regime hätten nur ein paar haftbare Vasallen verbrochen. Das ging nicht auf: diese Anerkennung ostdeutscher Biographien abzüglich der Umstände, unter denen sie stattgefunden hatten. Erst als ihr Staat unweigerlich verschwunden war, erkannten, bekannten die Ostdeutschen: Die DDR, das waren wir selber."

Der Ostler konnte nicht so weiter machen wie bisher. Was der Westler von innen sieht, sieht sein gedemütigter Nachbar von außen.

"Jede Gesellschaft ist zynisch, die ihr Ethos nicht mehr zeugen kann, nur noch zitieren und plakatieren. Der Westen steckt, bei ungebrochener Ideologie, inmitten moralischer Abstiegskämpfe, weil seine, sagen wir, Geborgenheiten immer schwerer finanzierbar sind. Und dennoch diskutiert dieses West-Deutschland rein restaurativ, ohne ehrlich Inventur zu machen und DDR-Erfahrung als eigene Geschichte zuzulassen. Genau das tut, und weiter nichts, die PDS. Genau das macht sie zum Identitätsanker. Alle anderen Parteien im Osten sind westliche Hohlkörper. Die PDS muß mitregieren, sonst wird der Osten chronisch oppositionell. Es geht nicht um Ost-Identität. Identität hat man oder nicht; stehlen kann sie keiner. Es geht um soziale Prägungen, die nicht schon deshalb wertlos sind, weil sie in der Diktatur gemünzt wurden. Dort haben wir riechen gelernt, wie eine Moral verfault. Wir rätseln, wie ein durchweg hedonistisches Gemeinwesen Sozialstaat sein und sogar bleiben will." (ebenda S.100)

4. West-östliche Ungleichzeitigkeit

Rücksprung  Sprung

Die Sammlung früher Texte hieß 1991 im Untertitel noch: "Cocker, Dylan, Lindenberg und die verlorene Zeit", 1999 war das geändert in "die bleibende Zeit". Was bleibt?

"Ich suche keinen Zeitgeist in der Musik, sondern timestop: nicht Tempo, aber die Entschleunigung der Welt, Zeitgeist heißt: Aktualität. Zeitgeist ist Westen. Im Osten ist Zeit auch der Geist der Geschichte, weil was wir Gegenwart nennen, so viel Voriges mit sich schleppt. Statt Westen ist nun Gestern unsere Gegenwelt. Wir existieren in zwei Zeiten. Im bloßen Heute sind wir nur zu Besuch. Ein Teil von uns lebt hinter einem Zeitengraben, den der Westen nicht kennt: 1989. Das doppelt uns Gestern und Heute, Diesen breiten Begriff von Gegenwart hat der Osten dem Westen voraus, derweil der Westen denkt, der Osten hinke ihm Jahrzehnte hinterher." ("My Generation", S. 229)

Hier prallen Weltsichten aufeinander, um nicht zu sagen "Kulturen".

"Doch, ich klage: übers östliche Verstummen. Über die amoralische Verdrängung der doppeldeutschen Herkunft dieser neuen Bundesrepublik, die so gern die alte bliebe, über pubertäre Trends, Geschichte abzuschaffen, damit man nicht für Vorgeschichte haftet. Über das antivisionäre Plattdeutsch des Westens. Sprache ist geschichtlich und bindet an Geschichte, also plappern ihre Ignoranten visuell, virtuell, in geilen Techno-Pixeln - kurz, scharf, neu! Wer investiert ins Erbe? Und sehr rasch münden die virtuellen Bilder in die Wirklichkeit der kommerziellen Piktogramme, welche unverschämterweise Logos heißen. Ihr Quantum Mystik schafft sich diese heimatlose schöne neue Welt durch Augenblicksvergottung, auf daß Leben flash sei, nicht Gedächtnis, nicht Erinnerung. Unsereins kann schwerlich akzeptieren, daß auch die Via digitalis in die Wälder der Erkenntnis führt, nicht nur zum Schlachthof der Sprache. Wie all dies manisch Neue das Gespräch des Volks uniformiert, dazu schweigen die Dichter. Immer noch gilt es im Westen als unrein, wenn Literatur, also Wahrsprache, Politizität bezweckt. Kunst soll sie sein und bleiben, zahnlos schön oder, für die Schickeria, brüllend begabt zur Amoralität des Scheißhaustheaters, aber keinesfalls politisch oppositionell.
Die Künste wie die Kirchen in der DDR lebten aus politischer Moral, sofern sie das Wort an die (SED-besetzte) Öffentlichkeit brachten. Heute ist die Öffentlichkeit verschwunden durch Multiplikation, und das Wort, zu Tode publiziert, vergilbt im Ramsch. Was hilft dagegen? Sammlung. Lesen und Schreiben. Das eigene Tempo hüten. Die Kunst nicht alltäglich verbraten, aber dem Alltag versöhnen. Verständlich, also wirklich bleiben. Die Vögel und die Bäume kennen, die Energiekonzerne, die Waffenexporteure, die Parteiungen und die Schulfreunde der Kinder. Die Dinge muß man nennen, die Verben erfinden." (ebenda S.11)

5. Subversiver Humor

Sprung   Rücksprung

Dieckmann kommt aus jenem Land, wo nicht nur Christa Wolf lebte sondern auch "der röhrende Kirsch". Das war "in der Halb- und Hauptstadt der DDR, die gerade lärmend 750 Jahre wurde (West-Ber-lin zufällig auch)." Und zehn Jahre danach beobachtet er im Oder-Hochwasser eine Bundeswehr, die dort zur "Volksarmee" wird. Und "Kohls Adlatus, Pfarrer Hintze, warnte bitterlich, es sei die Rote Socke fruchtbar noch, aus der einst die SED gekrochen". Wen wunderts da, Dass selbst "in Istanbul von der DDR noch etwas geblieben war: der Obelisk des Hippodroms, in dem 1284 der Ritter Runkel von Rübenstein das Wagenrennen gewann ("Mosaik" Nr. 113 vom April 1966)." "Volk bleibt Volk", u. z. S. 39!

6. Subjektivität

Rücksprung

Der Journalist als Journalist möge sich nie mit einer Sache gemein machen - auch nicht mit einer guten! Dieses Credo und Vermächtnis von Altmeister Hajo Friedrichs achtet auch Christoph Dieckmann, aber er unterwirft sich ihm nicht.

"Ich bin nicht unabhängig. Ich schreibe aus Verbundenheit mit meinem Gegenstand, dem Osten Deutschlands. Mich bindet Herkunft. Mich treibt Erinnerung. Ich bin nicht befangen, ich bin gefangen. Nur vom Irrtum der Interesselosigkeit weiß ich mich gänzlich frei: Ich will, daß meine Welt geschrieben stehe.
Nein, der Osten war nie, wie ich erzähle, nur der meine." ("Das wahre Leben im falschen", S.15)

Und so tröstet er sich und uns über die scheinbare Verlorenheit seiner Position im deutschen Medienbetrieb hinweg.

"Wenn die Redaktion der größten deutschen Wochenzeitung zu 1,2 Prozent aus Ostdeutschen besteht, dann sind doch 3,6 Prozent Ostverkäufe ein beglückender Erfolg." ("Das wahre Leben im Falschen", S.52)

Weil Christoph Dieckmann glaubwürdig und geistreich, unbestechlich in der Beobachtungsgabe und stark in der Formulierung einen Typ von Intellektuellen, von Aufklärer verkörpert, überdauert er in diesem Medienbetrieb als Fossil einer Ethik, auf die sich diese Medienwelt doch beruft, während sie von Event zu Event hastet. Sein und unser Glück ist: Er darf Publizist sein, wo sonst nur kurzer Atem ist.

"Es ist die Illusion unseres Berufs, daß wir, den Schauplatz verlassend, die Geschichte abgeschlossen hätten. Nur der Text wird fertig, die Geschichte nie."

Und auch dies bewirkt ein wahres Journalistenleben im Falschen:

"Man sollte so schreiben, daß man sich dort, wo die Geschichte her-kommt, wieder blicken lassen kann. Dennoch - wir sind nicht Ärzte, wir sind Spediteure. Wir befördern Selbstverständlichkeiten, die erst dann Geschichten werden, wenn eine Fremde sie für unerhört befindet.
Oder man kommt als Fremder und bleibt. Zugereiste sind die besten Ortschronisten. Sie können noch staunen. Sie unterscheiden die Dinge und Zeiten. Ihnen sackt nicht alles eingeboren ineinander." ("Das wahre Leben im Falschen", S. 233)