Gegen den Strom
Auch in seinem ersten Roman "Die Schlinge" bleibt Rolf Henrich ein unangepasster Kritiker seiner Zeit

© Lars Broder Keil,Berliner Morgenpost; vom 06.08.2001 / S. 15

 

Sein Buch "Der vormundschaftliche Staat" war eine schonungslose Analyse des real existierenden Sozialismus. Eine Analyse des Versagens. Es habe den Staat DDR unter die Erde gebracht, heißt es. Das 1989 im Westen erschienene Buch ist heute vergessen. Auch Rolf Henrich, Mitbegründer des Neuen Forums, ein Individualist und Querdenker, ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Er lehnte nach der Wende politische Ämter ab, weil er einen Verlust an Spielraum und Freiheit fürchtete.

Nun kehrt Henrich mit seinem ersten Roman zurück. Er erzählt von Grenzen, der realen an der früheren deutsch-deutschen Trennungslinie, der übertragenen, die er unsichtbar in einem Gerichtssaal zieht und in die Köpfe der Menschen projiziert.

Sparsam garniert mit Milieu-Skizzen ostdeutschen Alltags.

Donath, einst Spanienkämpfer und voller Ideale, dann NVA- General und Schreibtischtäter, wird zur Last gelegt, für die Installation von Selbstschussanlagen verantwortlich gewesen zu sein und damit den Tod von Menschen in Kauf genommen zu haben. Der Befehlsempfänger und -geber kann den Vorwurf nicht verstehen und hofft auf Gerechtigkeit.

Anwalt Lukas Wolfskehl übernimmt den Fall, widerwillig, auf Bitten eines Freundes, je länger er sich damit beschäftigt, um so deutlicher wächst sein Eindruck, dass die Juristischen Mittel bei der Bewertung von Vergangenem begrenzt sind. Auf die Frage nach Schuld, Moral und Verantwortung findet Wolfskehl aber auch außerhalb des Gerichts keine Antwort. Dort trifft er auf gewendete Wendegewinner und Profiteure aus dem Westen. Beide nehmen sich die Freiheit, an Gerechtigkeit keinen Gedanken zu verschwenden. Der Anwalt erkennt: Zeit ist das Übel. Zeit. Und langsam legt sich nicht nur um den Hals des Angeklagten eine Schlinge. Auch Wolfskehl spürt sie und zieht seine Konsequenzen.

Die Zerrissenheit in der Figur eines angeklagten Generals, einst Held, dann Verbrecher, habe ihn gereizt, sagt Henrich. Doch Donath bleibt blass. Er wirkt auf den Leser wie das, was er wohl wirklich ist: ein starrsinniger Militär. Er wird zur Randfigur. Interessanter ist Wolfskehl, der Anwalt, gut im Geschäft, aber einer, der keine Lust mehr hat auf das eingeübte Lächeln im Gerichtssaal, auf die gespielte Empörung, die rhetorischen Kniffe, kurz: Er hat genug davon zu schauspielern, statt um Recht zu streiten. Henrich hat hier offensichtlich sein eigenes Dasein verfremdet. Auch er arbeitet als Anwalt in der brandenburgischen Provinz. Auch er verteidigte Generäle und löste damit Unverständnis aus. Auch ihn stört die schleichende Routine des Iobs. Und die neue Angepasstheit in der Gesellschaft, diese dumpfe Geisteshaltung, der nicht mehr mit Idealen beizukommen ist.

Henrich ist das zuwider, und wie mit seinem "vormundschaftlichen Staat" will er sich nun mit dem Roman von der Schlinge um sein Herz befreien.

Henrichs Empörung ist latent. Er hat sie immer wieder niedergeschrieben und 199t in dem lesenswerten Essay-Band "Gewalt und Form - In einer vulkanischen Welt" gebündelt veröffentlicht. Dort bedauert er die verpasste Chance, mit der Wende wenigstens punktuell auch das verkrustete bundesrepublikanische System aufzubrechen. Für ihn erneut ein Zeichen von Versagen. Und schon dort beklagt der heute 57-Jährige die "offenbarende Dekadenz des Politischen" und die Inbrunst, mit der "dem Glauben an den Rechtsstaat gehuldigt wird", so, "als könne dieser für alle Zeiten unser Leben "in ein begradigtes Strombett zwingen".

Der Grundoptimismus fehlt den Deutschen, befand Henrich in einem Interview. Diese Stimmung liegt auch seinem Roman zugrunde. Henrich ist und bleibt ein unangepasster Kritiker seiner Zeit.