Der Geist im Gurkenglas
Rolf Henrich, Akteur der 89er Wende, schrieb den Roman "Die Schlinge" über einen Mauerprozess

© Volker Müller, Berliner Zeitung; vom 11.08.2001 / S. 13

 

Rolf Henrich weiß nicht so recht, ob er sich für die Zeitung mit dem Gurkenglas fotografieren lassen soll, das Über dreizehn Jahre im sumpfigen Waldboden vergraben war, nahe der alten Hammertorter Schleusenmeisterei, wo er wohnt. Irgendwie kommt es ihm albern vor, sich mit dem Gefäß zu präsentieren, das zwei Manuskriptrollen aus dünnem Durchschlagpapier birgt. Erst als der Fotograf vorschlägt, die Situation zu ironisieren und um ein Stilmöbel aus dem Haus bittet, spielt Henrich mit. Vergangene Zeit lässt sich eben nicht einfach so, wie sie war, wieder heraufholen; wir werden das bei unserer Begegnung noch mehrfach von dem Rechtsanwalt hören.

Damals, um den Jahreswechsel 1987/88 war das hier kein Gag gewesen: Henrich hatte in dieser Natureinsamkeit die Zweitschrift seines Manuskripts zum Buch "Der vormundschaftliche Staat" vor dem Zugriff der Stasi verbuddelt. Zudem konnte er nicht sicher sein, dass das Original, portionsweise in mehrere Pralinenkartons verteilt, seine Adressaten im Westen erreichte. Der Genosse Henrich, angesehenes Mitglied des Rechtsanwaltskollegiums im DDR- Bezirk Frankfurt (Oder) und Über Jahre auch dessen Parteisekretär, hatte sich in messerscharfer wissenschaftlicher Analyse zu befreienden Erkenntnissen hingearbeitet. Herausgefordert von Rudolf Bahros "Alternative" und weit über dessen reformistische Sozialismuskritik hinausgehend, rechnete er radikal mit dem Staatssozialismus und seiner ineffizienten Planwirtschaft ab. Schonungslos widerlegte er den anmaßenden Anspruch der Parteidiktatur, dieVollstreckerin eines höheren historischen Fortschrittswillens zu sein, für den jedes Mittel recht sei.

Henrich kündigte der Partei seine Dienste als "prädestinierter Knecht" dieser "welthistorischen Mission" auf.

Ein Jahr noch sollte es dauern, bis das Buch im Frühjahr 1989 bei Rowohlt erschien. Man wart Henrich aus der Partei, belegte ihn mit Berufsverbot - es focht ihn nicht mehr an.

"Ich war gesprungen. Ich war innerlich frei." Der Appell, sich aus der Vormundschaft des totalitären Staates zu lösen, wurde zum Fanal für die demokratische Bürgerbewegung und die 89er Wende. Henrich war einer ihrer Akteure. Mit Bärbel Bohley und Katja Havemann gründete er das Neue Forum. Er saß am Runden Tisch, hätte Oberster Richter der DDR werden können oder auch Staatssekretär in Brandenburg - er lehnte ab. "Fraktionsdisziplin? Etwas in mir macht da nicht mit!"

Er wurde wieder ein erfolgreicher Wirtschaftsanwalt in Eisenhüttenstadt, jetzt auch mit einer Kanzlei in Frankfurt (Oder). Politisch wurde es still um ihn, auch um das Buch, das 1990 noch einmal bei Kiepenheuer erschien. Das Gurkenglas in seinem Verlies schien vergessen. Aber kürzlich wurde dieser seltsame Schatz vor laufenden Fernsehkameras gehoben. Geweckt wurde dieses rückschauende Interesse von einem neuen Buch Rolf Henrichs. Wiederum unbequem und provokant, aber diesmal mit belletristischen Mitteln, fragt es nach persönlicher Schuld, in die eine "vormundschaftliche" Politik den Einzelnen treibt.

In seinem Roman "Die Schlinge" erzählt Henrich die Geschichte des ehemaligen Spanienkämpfers und NVA-Generals Donath, der für den Unterhalt von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze zuständig war und sich für grausige Tötungen und Verletzungen vor Gericht verantworten muss, und des Anwalts Lukas Wolfskehl, der ihn verteidigt. Rolf Henrich schrieb aus eigener beruflicher Erfahrung: Schon lange beschäftige ihn dieser "unentschuldbare Bruch" in den Biografien von Antifaschisten, dieser Weg vom "Helden" zum "Kerkermeister" - "und alles im Namen der guten Sache, unter der Fahne höchster Menschheitsideale".

Henrichs Erzählung muss der "Erziehungsdiktatur" ästhetischen Tribut zollen: Donath bleibt ihr blasses Charakterprodukt als einer, der "wahrscheinlich gar nicht mehr wusste, wodurch er zu sich selbst gekommen war, zu seinem Beruf, seiner Weltanschauung, in die Kaserne "." Die Konfrontation mit diesem Mandanten, der nicht nach geltendem Recht und Gesetz, sondern nach seinem ideologischen Begriff von Gerechtigkeit beurteilt sein will, bringt den mit "kaltem Blick" ausgestatteten Wolfskehl in Zwiespälte. Mit dem milden Urteil sind am Ende weder die Opfer, noch der Täter, noch die Juristen glücklich. "Das sind Schauprozesse light", mokiert sich Henrich, "Milde ist gar kein Ausdruck, wenn man die Toten und Schwerverletzten an der Grenze bedenkt. Da ist ein namenloses Sterben gewesen. Nach 200 Anklagen kamen rund 25 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen heraus. Die Strafverfahren der Justiz sind nur sehr beschränkt geeignet, mit dem Unrecht aus der Vergangenheit fertigzuwerden." Rolf Henrich 1- -ä:c

Im Buch sieht sich ein Lukas Wolfskehl von Opportunisten, skrupellosen Geschäftemachern und storygierigen Journalisten umgeben, die autseinen Mandanten als Sündenbock zeigen: "Der ist's!" Dabei käme es doch auf unser aller "Ich-bin's!" an, meint der Anthroposoph Henrich und lässt es seinen Protagonisten Wolfskehl - in etwas vordergründiger Collage - zum Schluss mit dem erlösenden Chor aus Bachs Matthäuspassion fühlen: "Ja, ich bin's'? Was für eine Einsicht das wäre!" Aber statt des Märenden Eingeständnisses eigener Verstrickung, so beklagt Henrich, sind wir eher bereit, "gegen die Zeit aufzubegehren, die Vergangenheit zu simulieren und dem Nächsten herabsetzend nachzustellen".

Fast beschwörend setzt er hinzu: "Es gibt bei aller notwendigen Erinnerung an Schuld und Sühne auch ein ,Es war' im Interesse unserer Gegenwart."

Rolf Henrich vermisst den gesellschaftlichen Diskurs Über die- se moralische Neufindung der Gesellschaft. "Übrigens nicht nur im Osten. Auch auf der anderen Seite der Grenze hatte man sich als Strafe tür die eigene Schuld mit der Teilung abgefunden. Die Verwüstung, durch die Mauer zementiert, ist von weit her in unserer Geschichte gekommen." Wie soll das Verständnis dafür als selbstbefragendes "Privatissimum" reiten? Der Anwalt Henrich setzt da nicht auf die Juristerei und auch nicht aufs Theoretisieren: Einzig die Kunst könne die vielen Antworten bereit halten, die die Menschen zwischen schuldig und nichtschuldig, gut und böse suchen. "Schade, dass Heiner Müller sein Theaterstück nicht mehr schreiben konnte, das in Stalingrad beginnen und mit dem Fall der Mauer enden sollte."

Für den Wende-Geist im Gurkenglas interessieren sich inzwischen einige Geschichtsmuseen. Nun müsste man das Buch auch wieder kaufen können.