So ist es festgehalten auf der LP "Singt mit uns" von 1972. Die politisch besorgten Berater fanden das freundschaftsgefährdend. So sang R.Andert zum 9. Festival des Politischen Liedes eben etwas holpriger aber korrekter:

"bei uns erfüllt jeder die Norm."

In Moskau durften sie noch immer das Wetter machen, aber in Peking sollte es dann mindestens eine Regierungsreform sein.

Als Spanien die Francodiktatur abzuschütteln begann, war ich Student und Singeklubmitglied in Leipzig. Mit unseren Liedern hatten wir schon den Putsch in Chile betrauert - und wie wir meinten - auch bekämpft und wir hatten gesungen

"Alle auf die Straßen"
rot ist der Mai!
Alle auf die Straßen!
Saigon ist frei!"

Wir erlebten den "portugiesischen April" der roten Nelken. Und in Spanien war Franco gestorben und die faschistische Diktatur endlich ins Rutschen gekommen. Wir traten auf bei Parteiversammlungen, Betriebsfesten, Eröffnungen des FDJ-Studienjahres zum Erwerb des Abzeichens "für gutes Wissen", Singewerkstattagen, Jahrestagen, Empfängen, Manifestationen und auch manchmal für uns, in Altersheimen oder vor Hausgemeinschaften. Wir waren befreundet mit Chilenen, Slowaken, Finnen, Spaniern. Die Welt war mit ihren progressivsten Studenten um uns herum. Und so nutzten wir einen Auftritt vor der Parteiorganisation der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig, um für die KP Spaniens zu sammeln. Dem SED-Parteisekretär kamen da ernste Bedenken. Waren die spanischen Genossen nicht sehr unangenehm aus der Reihe getanzt mit Eurokommunismus und solchen revisionistischen Renitenzen?

Diese vergesellschaftete Selbstzensur erlebte ich später auch beim BSV (Blinden- und Sehschwachen-Verband) der DDR. Der Bezirk Rostock hatte mich zum zentralen Kulturausscheid geschickt, der in der Kongreßhalle in Berlin stattfand. Ich sang Lieder, die aus Befindlichkeiten und Nachdenklichkeiten bestanden. Einen vergleichbaren Beitrag gab es nicht. Und so wurde mein Auftritt in der anschließenden Auswertung einfach übergangen. Wie mir ein Jurymitglied später sagte, hätte mein Gesang allzu sehr an Biermann erinnert. Das ist natürlich bahrer Unsinn, aber das Ignorieren des Unangepassten hatte Methode im Verband. Es wurde 1988 auch bei der Sehschwachenkonferenz praktiziert. So sehr sonst die sowjetische Delegation mehr hofiert wurde als andere, wurde sie diesmal ignoriert. Die Parteiführung hatte gerade sowjetische Presseorgane wegen Glasnost-Infektionsgefahr aus dem Vertrieb genommen ("Neue Zeit" und "Sputnik"). Während der Künstlerverband den Aufstand probte, übte sich der BSV in vorauseilendem Gehorsam.

"Mögen andere von ihrer Schande reden, ich spreche von der meinen", sagte Brecht, und das ist ein gutes Rezept. Auch ich saß in Beratergruppen zu FDJ-Bezirkswerkstätten der Singeclubs und wollte mich durch besonders kluge Ratschläge hervortun. Welchen Unsinn ich da als Genosse Beckmesser ans mehr oder weniger ehrfürchtige Singejungvolk verteilte, weiß ich wirklich nicht mehr. Aber ich bin froh, daß ich nicht als Wachhund kläffte, als ein paar Lehrlinge aus dem Werk für Nachrichtenelektronik, das heute Siemens gehört, das Lied von den kleinen Händen sang, auf die man nicht treten soll. Nachdenklich machte mich nur, daß sie diese Message mit ganz anderer Überzeugungskraft brachten als die sonstigen Singestandards. Bettina Wegners Lied gipfelt ja in den Worten: "Sind so kleine Rücken, darf man nicht zerbrechen, Menschen ohne Rückgrat haben wir schon genug." Woher kannten sie das? Bettina Wegner durfte das in den Massenmedien nie singen oder schreiben.

Freimütig ging es zu bei den Liedtheatertagen in Dresden. Offen konnte ich gegen jene absurde Kulturpolitik wettern, die jeden Künstler, der in den Westen ging (und das waren leider nicht wenige) auf den Index setzte, so daß nichts aber auch gar nichts von ihm mehr aufgeführt werden durfte. Den Weggang habe ich nicht verteidigt, aber daß uns Dagebliebenen das als Volkseigentum gehört, was die Ehemaligen bei uns, für uns und mit uns gemacht haben, das sollte doch klar sein, so daß man das nicht wegschließen sollte.

Der Genosse Erich Mielke hat einmal die Bedenkenträger unter den Ökonomen als "Quatschköppe" bezeichnet. Ja, Narren waren auch wir.

Beim Nachschlagen in Lutz Kirchenwitzens Nachlese zur DDR-Singeszene stoße ich auf ein Zitat, das mir Ekel bereitet. Aber so dachten Mächtige, die ihre Macht dazu nutzten, die DDR unhaltbar zu machen: In einem Mitternachtsgespräch beim 8. Festival des Politischen Liedes 1978 sprach der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Helmut Müller über seine Sicht auf Schädlinge: Probleme habe man "mehr als Ratten im Keller. Jede einzelne Ratte wird bekämpft - mit unterschiedlichen Methoden. Mancher zeigen wir nur das Loch, aus dem sie kam; manche streicheln wir, manche fangen wir. Wir haben für jede Ratte ein Rezept. Keine bleibt unbehandelt."

Mitte der 80er Jahre hatte sich die Kulturlandschaft vom 76er Disziplinierungs- und Austreibungsgericht nach der Biermannausbürgerung erholt. Und in Moskau wurden Dogmen verbannt, die in der Sowjetliteratur, in den besseren Mos-, Len- und anderen -Filmen sowie in den Liedern von Wyssozki oder Okudhawa schon längst beerdigt worden waren. SED und KPdSU schwangen nicht mehr auf der gleichen Frequenz. Die DDR-Intellektuellen sahen eine Chance in Glasnost. Die anderen, die gern dabei bleiben wollten, daß man die Wahrheit einfach dem "ND" entnimmt, waren durch die Risse im Monoliten zumindest zum Denkansatz gezwungen. Das Land brach auf und verharrte doch im Warten auf die "biologische" Wachablösung.

Das Ende ist sattsam bekannt. Daß die FDJ 1988 aber sogar ihrem Flagschiff Oktoberklub die Liebe entzog, wußte ich damals nicht. Nun gut, "Abschied der Matrosen vom Kommunismus" (Mensching/Wenzel).

"Getäuscht hat sich die Taube,
hat sich getäuscht, die Taube.
Wollte nach Nord und flog nach Süd.
Für wasser hielt sie das Kornfeld,
hielt das Meer für den Himmel,
hielt die Nacht für den Morgen."

Wir tauchen mit unserem Seminar noch einmal ein in die Epoche, die uns geprägt hat, in der wir uns entzündeten, deren Schild-und-Schwert-Lieder wir gesungen haben. Das "Wir" dieses Textes will diejenigen verbinden, die zusammenkommen, um in ihre Biographie zurücktauchend, eben auf diese Gemeinsamkeit stoßen: gesungene, gefühlte, gelebte oder wenigstens erlebte Lieder.

Und wie erstaunlich kompatibel für die Jetztzeit ist jenes Lied von Gundermann, veröffentlicht 1988.

Scheißspiel

"jeden morgen steigt mein völkchen in den ring
und dann schlägt es aufeinander ein
doch mit dem schlagen ist das ein besondres ding
jeder will der hammer keiner will der amboß sein
das isn scheißspiel du und ich wir zwei
wir machen nicht mehr mit dabei
das isn scheißspiel und ab morgen bleiben
unsre startlöcher frei
was man in die hand bekommt wird ausgepreßt
brüste kehlen köpfe portemonnaise
was nicht zusammenhält wird auseinandgefetzt
und abends geht mein völkchen in die knie
irgendwann ham wir mal in physik gehört
daß druck den gleichen Gegendruck erzeugt
wie kommt daß jeder nur auf seine fäuste schwört
und keiner vor dem andern seinen nacken beugt
das isn scheißspiel du und ich wir zwei
wir machen nicht mehr mit wir zwei
Das is'n
Scheißspiel!"

 

Risse und Brüche - eine persönliche Bilanz

"Und in den Nächten brennen die Feuer, schmelzen alltägliches Eis. Diese Feuer brennen ungeheuer warm und machen Herzen heiß."

Kennt Ihr das noch? Das war unsere Lagerfeuerromantik.

"Ich lernte am Feuer unser Lied.
Der wind trug es über das Land.
Das Tuch, das ich trug, war dunkelblau,
das Bild seh ich noch genau."

Das Blau des Tuches wuchs zu dem des Hemdes und schließlich fassen sich Hände, wie sie der Genosse am Knopfloch trägt - oder auch nicht.

Mit der Reife der Jahre nahm die Romantik ab und die Utopie wurde zum Tummelplatz der Intellektuellen. 1985 gab es noch mal ein Lied, das ganz einfach ein Programm hätte sein können. Werner Karma textete für die Pension Volkmann:

"Satt zu essen
und 'n Ausweis in der Tasche, der was gilt - satt zu essen und 'ne Heimat,
die dich nie für Fernweh schilt."

Natürlich gehören dazu eine Freundin "die es dir aus Lust besorgt" und ein Nachbar, "der dir seine Platten borgt" - wohlgemerkt war das Plattenborgen ein ganz besonderer Vertrauensbeweis in einer Zeit, in der Platten rar und CDs noch nicht bekannt waren.

Noch immer übernahm der Oktoberklub den Jubelpart, doch das war in den 80ern schon das bange Pfeifen im Wald.

"Da sind wir aber immer noch
und der Staat ist noch da, den Arbeiter erbaun..."

Mit kritikfähigem Abstand sind Untertöne zu hören, die eher Minderwertigkeitskomplexe vermuten lassen. Und war dieser Staat nicht durchdrungen von diesem Gefühl, auf der Überholspur der Geschichte auszurollen, weil nicht genug unter der Haube und im Tank war? Und auch die Lebenslügen dieses Staates schwingen in diesen wenigen Zeilen mit: Es war wohl nicht der Staat,

"den arbeiter erbaun. Das Land, es lebt, es lebe hoch, weil Arbeiter sich traun. Und als die Sache besser ging, weil die Suppe nicht mehr dünn war und der Dreck nicht mehr so tief, da war's, daß man von Westen rief: 'Ihr geht grade, doch der Weg ist schief."

Und so meldeten sich die Nachdenklichen aus Dresden zu Wort:

"Sieh Karin, Sieh. Der Berg ist hoch.
Wir sehn uns kaum vor Wolken,
doch in der Nähe muß das sein,
was wir erreichen wollten."

Für die wirklich Mächtigen war das ein vernachlässigbares Narrentreiben, meinten sie doch genau zu sehen, was Karin nicht sah.

"Unsere Widersprpüche sind riesig, aber es sind unsere!"

versuchte das Liedtheater im Kulturpalast Dresden, die Gruppe Schicht in den Worten des "linientreuen Dissidenten" Jürgen Kuczynski eine produktive Denkarbeit anzuzetteln. Da hatte Bernd Rump schon die Widmung seines Frühlingsliedes zurückgezogen.

"Heut schmeckt die Luft
als wäre nie ein Körnchen Staub in sie gekommen.
Die Leute sehn aus,
wie von einer langen Reise heimgekehrt.
Selbst der alte Baum,
den man abgehauen hat,
findet neue Kraft zu einem grünen Blatt."

Das besang einst den VIII. Parteitag der SED und den freieren, offeneren Kurs des Erich Honecker. Aber, wie gesagt, Bernd Rump hat das schon vor Erscheinen der LP "Regenbogenlieder" (1977) zurückgenommen.

Kleinkarriert ging es noch immer zu, kleinkarierter noch als beim Genossen Walter Ulbricht, der vom Weltniveau und der wissenschaftlich-technischen Revolution schwärmen ließ. Wir waren "die größte DDR der Welt" und letztere schaute unablässig auf erstere. Deshalb mußte Reinhold Andert auch eine Stelle in seinem "Tag der großen Arbeit" wie folgt ändern. Zur Erinnerung, das Lied beginnt so:

"Es wird kommen ein Tag mit viel Arbeit
auf dem Feld, in der Schule, im Schacht,
denn in allen Ländern der Erde
hat die Arbeiterklasse die Macht."

Und dann ging es weiter:

"An dem Tag streiken Kölns Unternehmer
und in Kuba erfüllt man die Norm.
In Moskau macht man das Wetter
Und in Peking die Hochschulreform.""

 

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Erstellt am 25.11.1998HTML-Fassung im April 2002Zuletzt geändert am 20.06.2004