2. Die Frau in der ländlichen Familie

 

Die Familie ist die elementare Organisationsform der Beziehungen zwischen den Generationen und Geschlechtern. Ihre Kernbeziehung ist die zwischen Eltern und Kindern. In ihrem Inhalt und ihren Funktionen differenziert und zugleich komplementär sind die Rollen der Väter und der Mütter. Die innerfamiliäre Positions- und Funktionsverteilung steht in bestimmter Wechselbeziehung mit den gesellschaftlichen (beruflichen, politischen, kulturellen) Entfaltungsmöglichkeiten der Frauen. Die Betrachtung von Struktur und Genese der Familienbeziehungen unter den bestimmten räumlich-zeitlichen Bedingungen der ländlichen Territorien im Norden der DDR ist daher ein wichtiges Element der Bestimmung der gesellschaftlichen Situation von Frauen.

2.1. Äußere Struktur der Familie

Unter äußerer Struktur der Familie verstehen wir deren Größe, demographische Gliederung und Außenbeziehungen (Verwandtschaftssystem, Nachbarschaft, Freundschaften).

2.1.1. Ein- und Zwei-Elternteils-Familien

Mit der Befreiung der Familie aus dem ökonomischen Kalkül der privaten Warenproduktion, der juristischen Gleichberechtigung beider Geschlechter, der Berufstätigkeit von Mann und Frau, dem gesellschaftlichen Mutter-, Kinder- und Jugendschutz als Elementen allgemeiner sozialer Sicherheit fallen äußere Zwänge weg, so daß Liebe und gegenseitige Achtung im wesentlichen die tragenden Faktoren bleiben, die eine Partnerschaftsbeziehung konstituieren.

Wo diese Basis endet, endet im allgemeinen auch die Partnerschaft. Die Auflösung disharmonischer Bindungen und das Eingehen neuer Partnerschaften gehören zu den gesicherten Individualrechten; die Gesellschaft hat dabei ein Mitspracherecht, vor allem zum Schutze der Interessen der juristisch minderjährigen Kinder. Vor allem unter diesem Gesichtspunkt ist die Gesellschaft an stabilen Partnerschaften interessiert, dieses Interesse ist aber kein formales, sondern ein inhaltliches, bezieht sich also nicht auf Partnerschaften, die ihren Sinn verloren oder gar ins Gegenteil verkehrt haben.

Betrachten wir das Familiengeschehen (Eheschließungen, Ehescheidungen, Geburten) unter territorialem Gesichtspunkt, so zeigen sich doch recht gravierende Unterschiede. Besonders deutlich wird das, wenn wir die Territorien herausgreifen, die administrativ in Stadt- und Landkreis geteilt sind.

 
Tabelle 7:
Eheschließungen, Ehescheidungen und Lebendgeborene je 10 000 Einwohner im Vergleich der Stadt- und Landkreise des Bezirkes Rostock im Jahre 1988
(Berechnet nach Unterlagen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik)
Kreis Territorium Eheschließungen Ehescheidungen Lebendgeborene
Rostock Stadt:94,734,1136,1
Land:50,123,9154,7
Stralsund Stadt:102,934,6128,2
Land:78,819,3224,4
Greifswald Stadt:84,836,5135,8
Land:66,128,4148,6
Wismar Stadt:128,230,2131,5
Land:-20,2152,5
Gesamtgesamt94,130,9139,9
 

Auffällig ist, daß nicht nur die Zahl der Ehescheidungen, sondern etwa im gleichen Verhältnis auch die der Eheschließungen in den Landkreisen niedriger liegt als in den Städten; in umgekehrter Proportion zeigt sich das Stadt-Land-Verhältnis bezüglich der Lebendgeborenen je 10 000 Einwohner. Obwohl die Zahlen, insbesondere bei den Eheschließungen je 10 000 Einwohner, stark differieren, ist die Grundaussage der Relationen in allen Territorien die gleiche.

Ein-Elternteils-Familien gehen hervor aus Scheidungen und Verwitwung, aber auch aus dem Willen lediger Mütter, vorübergehend oder auf Dauer ohne Partner zu leben. Die tatsächliche Zahl der Ein-Elternteils-Familien ist kaum zu ermitteln. Das sicher aufschlußreichste Material liefert eine repräsentative Erhebung des Instituts für Sozialhygiene der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, wobei vom 10.2.1984 bis 15.2.1985 in den Frauenkliniken Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Schwedt, Teterow, Pritzwalk, Kyritz, Güstrow, Lübz, Parchim, Bergen, Seehausen (Altmark), Demmin, Malchin, Pasewalk und Wolgast 12 399 Wöchnerinnen im Alter zwischen 15 und 44 Jahren erfaßt wurden. Von ihnen waren 32,3 % ledig, 63,8 % verheiratet, 3,7 % geschieden und 0,2 % verwitwet.Quelle!

"34,1 % der Unverheirateten, zu denen Ledige, Geschiedene und Verwitwete gezählt wurden, lebten in einer Partnerschaft, die sie selbst als Lebensgemeinschaft bezeichneten. Die Form der Gemeinschaft, gemeinsame Wohnung, Eheleben ohne Trauschein und ohne juristische Absicherung oder lockere Bindung mit gemeinsamer Interessenbefriedigung und gemeinsamer Aufzucht von Kindern wurde dabei nicht berücksichtigt. Insgesamt waren es 23,5 % aller befragten Wöchnerinnen."Quelle!

Diese Kategorie dürfte sich mit einer anderen überlagern: 26,9% der Wöchnerinnen, der Frauen, die im Untersuchungszeitraum also faktisch eine eigene Familie gründeten, lebten noch mit ihren eigenen Eltern. Eine Unschärfe, die quantitativ freilich weit weniger ins Gewicht fällt, ergibt sich daraus, daß es unter den Frauen, die formell in einer Partnerschaft leben, auch solche gibt, die wegen beruflicher oder anderweitig bedingter langfristiger Abwesenheit des Partners faktisch allein erziehend sind. Alles in allem aber berechtigt uns das vorhandene Material zu der Annahme, daß ungefähr 10 % der Familien Ein-Elternteils-Familien im praktischen Sinne dieses Wortes sind.

Eine territoriale Differenzierung des Bildes ist im Augenblick nicht möglich. Von den in der ALB 84 befragten Beschäftigten der Landwirtschaft lebten 94,8 % in Partnerschaft, ledig waren 8,6 %, verheiratet 84,3 %, geschieden 4,8 % und verwitwet 2,4 % der 210 Probanden. Von den 15,7 % der juristisch Alleinstehenden machten etwa 1/4 Angaben, die den Schluß zulassen, daß sie in Lebensgemeinschaft leben. Daß diese Befragung ein von den o.g. Daten abweichendes Ergebnis liefert, hängt sicher vor allem damit zusammen, daß der sozialstrukturelle Schnitt hier anders geführt wurde, vor allem ist die Altersstruktur der Probanden eine andere.

Ob Väter und Mütter gemeinsam leben und erziehen oder nicht, fällt in die Belange ihrer persönlichen Entscheidung. Durch unsere Sozialpolitik wird der familienrechtliche Grundsatz der Nichtdiskriminierung alleinerziehender Mütter und nichtehelicher Kinder materiell und moralisch abgesichert. Die Gesellschaft ist sich dennoch mit der Mehrheit ihrer Individuen darin einig, daß eine Familie, in der die Belastungen und Freuden nicht geteilt werden können, in der die Kinder nur eine erwachsene Bezugsperson haben, im Prinzip nicht optimal ist.

Einen gewissen Einfluß auf das soziale Klima unserer Dörfer mag noch immer, wenn auch in abnehmender Bedeutung, die Tatsache haben, daß Ein-Elternteilsfamilie und einzelbäuerliche Produktionsweise im Prinzip unvereinbar waren. Insbesondere die alleinerziehende Mutter hat es im traditonellen Bewußtsein der Dörfer schwer, eine geachtete Stellung einzunehmen. Hier ist es beinahe unmöglich, sich in die soziale Anonymität zurückzuziehen, wie das das städtische Leben zuläßt. Doch die ökonomischen, politischen und juristischen Bedingungen gestatten es den Frauen jetzt grundsätzlich, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen einzurichten, und sie setzen diesen Anspruch auch immer selbstbewußter durch, womit neue Realitäten und auch neue Einstellungen Raum greifen.

2.1.2. Die Anzahl der Kinder

Für die Organisation des Familienlebens ist neben den erwachsenen Familienmitgliedern auch die Anzahl ihrer Kinder ausschlaggebend. Traditionell war ländlicher Reichtum unlösbar verbunden mit Kinderreichtum. Jetzt können wir davon ausgehen, daß die Zwei-Kinder-Familie in Stadt und Land zum vorherrschenden Element geworden ist. Während die Gesellschaft demografische, pädagogische und kulturelle Gründe hat, die 2-3-Kinder-Familie zu favorisieren, tendieren die Individuen zur 2-1-Kind-Familie.

In welchem Maße wirkt hier noch der Einfluß ländlicher Traditionen differenzierend?

Ein Vergleich der Fruchtbarkeitsziffern zwischen den Bezirken der DDR, wie er jährlich im "Statistischen Jahrbuch" veröffentlicht wird, zeigt generell eine leicht höhere Fruchtbarkeitsziffer in den stärker agrarisch geprägten Bezirken. Doch die Unterschiede sind nicht sehr erheblich. Eine höhere Lebendgeborenen-rate sahen wir auch im Vergleich der Stadt- und Landkreise im vorangegangenen Abschnitt. Das ist erfreulich, zeigt es doch die gewachsene Wirksamkeit der familienbezogenen Sozialpolitik auch auf dem Lande.

Daß diese Unterschiede etwas mit schichtspezifischen Lebensvorstellungen zu tun haben, zeigt die Relation zwischen Berufsgruppen und durchschnittlicher Kinderzahl der Rostocker Erhebung, die hier ausschnittsweise wiedergegeben werden soll, wobei es uns auf den Vergleich zwischen typisch ländlichen und typisch urbanen Berufen ankommt.

Tabelle 8:
Beruf und durchschnittliche Kinderzahl der Wöchnerinnen aus 15 Frauenkliniken des Nordens der DDR
Quelle!

Der Unterschied zwischen Industriearbeiterinnen und Arbeiterinnen der Landwirtschaft (1,5 zu 1,8 Kinder im Durchschnitt) ist bemerkenswert. Zu bedenken ist, daß sich gerade Situation und Einstellungen mit der sozialistischen Umgestaltung des ländlichen Lebens und Arbeitens dynamisch gewandelt haben, und dieser Prozeß durchaus noch nicht abgeschlossen ist. Grundsätzlich folgt die Familienentwicklung auf dem Land dem selben Trend wie in der Stadt, nur in zeitlicher Verzögerung und leichter Modifikation. Die Modifikation liegt begründet sowohl in den Bedürfnisstrukturen als auch in den Lebensbedingungen, einschließlich Umweltfaktorn.

Der gegebene territoriale Unterschied wird im unmittelbaren Stadt-Land-Vergleich sichtbar.

 
Tabelle 9:
Vollberufstätige Mütter im Stadt-Land-Vergleich
(Kreis Greifswald 1988) nach der Anzahl ihrer KinderQuelle!
Mütter mitin StadtLand
1 Kind 49,6 41,2
2 Kindern 43,6 47,5
3 und mehr Kindern 6,8 10,4
Durchschnittlich 1,6 1,8
 

Bei der Berechnung der durchschnittlichen Kinderzahl wurde, entsprechend der von Meyer dargestellten Paritätsverteilung, ermittelt, daß die tatsächliche Kinderzahl annähernd widergespiegelt wird, wenn zu den "3 und mehr Kindern" ein Drittel addiert wird. Durchschnittliche Kinderzahl errechnet sich hier also wie folgt:

Mütter mit einem Kind + [Mütter mit zwei Kindern mal zwei] + [Mütter mit drei Kindern mal vier.

Erläuterung: Aus Tabelle 2, S. 12 bei Meyer, a.a.O., ergibt sich folgende Verteilung der 12 420 Mütter auf die Paritäten 1-6: 49,6; 38,2; 9,2; 2,2; 0,6; 0,2 %. 3 und mehr Kinder haben also 12,2 % der Mütter. Nehmen wir die Zahl der Kinder, die in diesen 12,2 % aller Familien leben, so entfallen von ihnen 67,7 % auf 3-Kind-, 21,6 % auf 4-Kind-, 7,5 % auf 5- Kind- und 3,1 % auf 6-Kind-Familien (höhere Ordnungszahlen können hier vernachlässigt werden). Daher ist die Zahl der Kinder, die in der Kategorie "3 und mehr Kinder" erfaßt sind, um 32,3 % zu erhöhen, was auf ein Drittel gerundet werden kann (um auch die Ordnungszahlparität <6 zu berücksichtigen), so daß die Zahl der Mütter mit 3 und mehr Kindern nicht mit 3, sondern mit 4 multipliziert wird. 1985 betrug der Anteil der vollberufstätigen Mütter mit 3 und mehr Kindern in der Stadt noch 7,4 und im Landkreis Greifswald noch 11,4 %. Der Trend ist in beiden Bereichen gleich.

Für die innere Struktur der Familie ist weiterhin der Altersabstand zwischen den Kindern bedeutsam. Gehen wir vom Zeitpunkt der Geburt aus, werden folgende durchschnittliche Abstände sichtbar. Der genannten Erhebung von 1984-1985 zufolge beträgt das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes 21,4, bei der des zweiten Kindes 25,1 und des dritten Kindes 27,8 Jahre. Das ergibt durchschnittliche Abstände von 3,7 vom ersten zum zweiten, 2,7 vom zweiten zum dritten und 6,4 Jahre vom ersten zum dritten Kind.Verweis!

2.1.3. Das Beziehungsumfeld der Kernfamilie

Zu den Ergebnissen der Entwicklung der letzten Jahrzehnte gehört zweifellos die Auflösung der ländlichen Großhaushalte, die aus drei und vier Generationen, Kindern, Eltern, Großeltern nebst ledigen und verwitweten Geschwistern, anderen Seitenverwandten, aber auch rechtlich nicht zur Familie gerechneten Personen (Gesinde) bestanden. Die Tendenz des "Auseinanderrückens" der Generationen, wobei sich der Haushalt der Kernfamilie räumlich und organisatorisch verselbständigt, ohne daß die räumliche Nähe zu Großeltern und anderen Verwandten unbedingt verloren gehen muß, wird international beobachtet.Verweis!

Der Großhaushalt ist funktional vor allem nach zwei Seiten hin vorteilhaft gewesen:

Die landwirtschaftliche Betriebsorganisation war auf eine größere Personenzahl, die in einem gemeinsamen Haushalt lebte und arbeitete, optimiert und alle Fragen sozialer Sicherung des Individuums, die heute weitgehend gesellschaftlich gelöst sind, verlangten die Einbindung des Einzelnen in diesen familiären Rückhalt. Mit der sozialistischen Umgestaltung ländlichen Lebens und Produzierens sind beide Gesichtspunkte so nicht mehr gegeben.

Im allgemeinen besteht das Bedürfnis, die Verselbständigung des Haushalts der Eltern-Kind-Familie so durchzuführen, daß keine allzu große räumliche Distanz entsteht, denn Kernfamilie und Großelterngeneration bedürfen einander nach wie vor wechselseitig: Die Kernfamilien nehmen gern die Hilfe der Großeltern in Anspruch bei der Kinderbetreuung, verschiedenen Haushaltsangelegenheiten (Einkauf, Speisenzubereitung, Instandhaltung u.a.) sowie beim Betreiben der individuellen Garten- und Tierproduktion. Die Großeltern rechnen ihrerseits auf Unterstützung der nachfolgenden Generationen in Alter und Krankheit. Gerade dieses Moment familialer Verantwortung sollte wieder stärker entwickelt werden.

Weiträumige Migration der Kinder aus beruflichen und anderen Gründen ist auch für jene Angehörigen der Elterngeneration perspektivisch ungünstig, die solche Bewegungen ausdrücklich fördern, weil es "die Kinder besser haben sollen", als sie selbst es hatten. Wo ein "Ungenügen" an den gegebenen Arbeits- und Lebensbedingungen lediglich in Migration der Betroffenen mündet, ist Unzufriedenheit nicht produktiv umgesetzt.

Das räumliche und organisatorische Auseinanderrücken der Generationen vollzieht sich dort weniger gravierend, wo sich Bauernhäuser im Familienbesitz befinden, die groß genug sind, von mehreren Haushalten bewohnt zu werden.

Neben dem verwandtschaftlichen Beziehungsgefüge spielt auf dem Lande noch immer die Nachbarschaftshilfe eine ausgeprägtere Rolle als in der Stadt. Durch die Solidarbeziehungen auf verwandtschaftlicher und nachbarschaftlicher Basis ist eine gemeinschaftliche Absicherung für verschiedene Leistungsausfälle gegeben. Gleichzeitig entsteht und reproduziert sich damit der spezifisch ländliche Kommunikationsraum, einschließlich seiner kulturellen Spezifika.

2.2. Der Familienzyklus

Der Familienzyklus ist die Biographie der Familie. Die Familie durchläuft eine Entwicklung, die mit der Geburt des ersten Kindes beginnt und mit dem Heraustreten des letzten Kindes aus dessen Herkunftsfamilie endet, wobei die Kinder dann selbst wieder eigene Kernfamilien gründen. Individuen, aber auch Paare durchlaufen also, grob gesehen, eine vorfamiliale, eine familiale und eine nachfamiliale Entwicklung. Die Partnerbindung (Lebensgemeinschaft, Ehe) spielt zwar für Struktur und Funktionieren der Familie eine erhebliche Rolle, nicht aber eine konstituierende. Die Familienentwicklung in diesem soziologischen Sinne beginnt also nicht mit der Eheschließung und "Zusammenschreibung" der Partner, sondern mit der Geburt des ersten Kindes.

Durch die Möglichkeiten der Familienplanung, die sich den Stadt- und Landbewohnern insbesondere seit Mitte der 60er Jahre breit eröffnet haben, ist ein hohes Maß bewußter Lebenszeitgestaltung möglich geworden.

Die sozialpolitisch gesicherte materielle, juristische und ökonomische Lage gestattet es den Frauen in der DDR insgesamt, die Frühphase des Familienzyklus, in der Kleinkinder vorhanden sind, auf einem, auch historisch und international gesehen, recht kurzem Abschnitt des eigenen Lebens zu konzentrieren.

Tabelle 10:
Altersstruktur und Kinderzahl der Wöchnerinnen in 15 Frauenkliniken des Nordens der DDR zwischen dem 15. 2. 1984 und dem 15. 2. 1985

Aus dieser Übersicht ergibt sich, daß nur 6,22 % der Gebärenden älter als 30 Jahre sind. Das bedeutet, daß der Familienzyklus bei etwa 95 % der Frauen mindestens mit ihrem 50. Lebensjahr abgeschlossen sein wird. Das Vereinbarkeitsproblem von Berufstätigkeit und Mutterschaft entspannt sich schon erheblich früher - für fast 80 % der Mütter vor Vollendung des 35. Lebensjahres, wenn wir die betreuungsintensive Zeit bis zum 10. Lebensjahr des Kindes rechnen (bei 79,9 % der Geburten waren die Mütter 26 und weniger Jahre alt).

Festzuhalten ist jedoch auch, daß die frühfamiliale Phase in den persönlichen Lebensabschnitt fällt, in welchem die Weichen für die berufliche Entwicklung gestellt und die größten Qualifikationsleistungen vollbracht werden.

2.3. Innere Struktur der Familie

Mit der inneren Struktur der Familie werden Charakter und Inhalt der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, die Verteilung der Aufgaben, Befugnisse, Verantwortlichkeiten zwischen ihnen umrissen. Die Grundtypen der inneren Struktur sind die autoritäre (patriarchalische bzw. matriarchatische) und die partnerschaftliche Familie. Nachfolgend soll versucht werden zu belegen, inwieweit auch in den Familien der Genossenschaftsbauern und anderer Bewohner der agrarisch strukturierten Territorien das Moment der Partnerschaftlichkeit ausgeprägt ist. Dabei können wir uns auf die Aussagen der ALB 84 stützen.

Familie

Gefragt wurde in der ALB 84, "Wer trifft im allgemeinen die Entscheidungen in folgenden Familienangelegenheiten?"

Hier die Ergebnisse:

 
"Wer trifft im allgemeinen die Entscheidungen in folgenden Familienangelegenheiten?"
RessortVorwiegend
die Frau
Vorwiegend
der Mann
Beide
zusammen
Probanden
Haushaltsführung 43,1 0,0 56,9 202
Kindererziehung 26,6 0,0 73,4 203
Größ.finanz.Ausgaben 5,9 4,9 89,2 204
Freizeitgestaltung 8,9 3,5 87,6 202

Die Positionsverteilung im familiären Entscheidungsprozeß ist demnach als kompetenzabhängig erkennbar. Am klarsten sind die Kompetenzen geschlechtsrollenspezifisch verteilt bei den Angelegenheiten von Haushalt und Kinderziehung.

Es ist nochmals zu betonen, daß die Probanden dieser Befragung aus dem Bereich Landwirtschaft kamen. Ein Vergleich mit Ergebnissen aus anderen Einziehungsbereichen wäre sehr interessant. Aussagen dazu können erst getroffen werden, wenn uns die Daten des Gesamtsampels, das bei der Akademie der Wissenschaften erfaßt wurde, zugänglich ist.

Ein bedingt vergleichbares Material liefert die Medizinisch- soziologische Befragung von 1800 Frauen in drei Berliner Stadtbezirken, die 1977 durchgeführt und 1985 vorgelegt wurde. Dynen und Sroca schreiben: "Wir konnten feststellen, daß der überwiegende Teil der Ehen eine partnerschaftlich orientierte Haushaltsführung hat (51,8 %). Bei 43,61 % ist die Haushaltsführung weiblich orientiert und 5,11 % männlich orientiert. Nur bei 39,67 % der Unterbrechenden konnte eine partnerschaftliche Haushaltsführung ermittelt werden im Vergleich zu 56,11 % der Austragenden bzw. 59 % der Nichtschwangeren."Quelle!

Hervorgehoben werden soll hier, daß von uns das Phänomen der "männlich orientierten Haushaltsführung" nicht gefunden werden konnte. Wahrscheinlich kann es sich unter ländlichen Bedingungen auch weit weniger herausbilden als unter urbanen Umständen.

2.3.2. Arbeitsverteilung unter zeitlichem Aspekt

Nach der Verteilung der zeitlichen Aufwendungen wurde in der ALB 84 gefragt bezüglich

  1. Hausarbeit
  2. Beschäftigung mit den Kindern
  3. Freizeit.

Folgende Skalierung war vorgegeben:

Im allgemeinen
   
  1. Männer viel mehr
  2. Männer etwas mehr
  3. Männer und Frauen annähernd gleich
  4. Frauen etwas mehr
  5. Frauen viel mehr.
Ressort Männer viel mehr Männer etwas mehr Männer und Frauen annähernd gleich Frauen etwas mehr Frauen viel mehr.Antworten
Hausarbeit 0,5 1,0 9,8 33,0 55,7 194
Kinder 0,5 2,0 22,3 48,7 26,4 197
Freizeit 19,8 49,5 25,0 5,2 0,5 192

Jegliche Aussagen über innerfamiliäre Zeitverteilungen sind mit äußerster Vorsicht zu betrachten.

  1. Das Familienleben vollzieht sich im intimen Lebensbereich, so daß Aussagen fast ausschließlich über Befragungen zu erhalten sind, die natürlich subjektiv und nicht frei von Selbsttäuschungen sein können. (Arbeitsmedizinisch fundierte speichertelemetrische Untersuchungen sind erst am Anfang, haben aber schon deutlich gemacht, daß der tatsächliche Kraft- und Zeitaufwand von den Individuen nicht real eingeschätzt wird).
  2. Der innerfamiliären Zeit wohnt eine spezifische Unschärfe inne: Äußerst variabel ist die Intensität in häuslichen und fürsorglichen Beschäftigungen, und fließend sind die Übergänge, sowohl von einer Beschäftigung zur anderen, wie zwischen zielgerichteter Tätigkeit und ungebundener Muße.
  3. Freizeit ist ein im täglichen Wortgebrauch unklarer Begriff. Wir verstehen unter Freizeit jenen Teil der individuellen Lebenszeit, der vor allem für die passive und aktive Erholung (einschließlich Hobbypflege), aber auch für Bildung und Qualifikation verfügbar ist.

Wer mehr Zeit für Haushalt und Kinder einsetzt, muß nicht zwangsläufig weniger Freizeit haben als sein Partner. Bei den ländlichen Familien ist eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die nicht unmittelbar zu Haushalt und Elternschaft zuzuordnen sind, aber trotzdem keine Freizeit im engeren Sinne darstellen, von den Männern zu verrichten: individuelle Agrarproduktion, Bau und Instandhaltung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, Bewirtschaftung des Grundstücks, selbst die Autopflege hat hier Aspekte der Lebensnotwendigkeit. All diese Aspekte sind in den Mann-Frau-Vergleich einzubeziehen.

Mit all diesen Einschränkungen muß natürlich konstatiert werden, daß unsere Probanden durchaus einen Zusammenhang zwischen der Verteilung der familiären Pflichten und der Freizeit sehen. Obwohl es der folgenden Übersicht an Signifikanz mangelt, wird hier doch besonders augenfällig, daß Frauen die Situation weit kritischer sehen als die Männer.

Tabelle 12:
Verteilung der innerfamiliären Zeitaufwendungen, getrennt ausgewiesen nach weiblichen und männlichen Probanden

2.3.3. Zur familialen Disposition weiblicher Persönlichkeitsentwicklung

Der Zusammenhang der inneren Struktur der Familie mit den Möglichkeiten der Frauen, ihre Persönlichkeit vielseitig zu entfalten, hat mehrere Aspekte, die differenziert zu betrachten sind.

  1. Das Zeitbudget im Ganzen. Da der persönliche Zeit- und Kraftfond begrenzt ist, beschränken sich die verschiedenen Tätigkeiten wechselseitig. Das spiegelt sich in der oben stehenden Tabelle als reziproke Verteilung der Freizeit einerseits und der Hausarbeit und Kinderbetreuung andererseits wider. Eine geschlechtsstereotype Rollenverteilung in der Familie muß die außerfamiliären Aktionsräume der Frau schon quantitativ beschränken, sobald die beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden, über die Normalarbeitszeit hinausgreifen. Das ist bei der überwältigenden Mehrheit der in der ALB 84 befragten Probanden aus dem Bereich Landwirtschaft nicht der Fall. So erklärt es sich, daß nur 12,7 % von ihnen meinten, im allgemeinen habe in der Familie die Qualifikation des Mannes Vorrang. Hier fallen jedoch wieder die schon bei anderer Gelegenheit bemerkten geschlechtsspezifischen Abweichungen der subjektiven Widerspiegelung der Verhältnisse auf: der familäre Qualifikationsvorrang der Männer wurde von 16.8 % der weiblichen, aber nur 2,2 % der männlichen Probanden konstatiert. 3,6 % meinten auch, daß die Qualifikation der Frau in ihrer Familie Vorrang habe. Es handelte sich dabei um Paare, bei denen die Frau eine qualifikationsabhängigere Tätigkeit ausübte: sie Ausbilder für Polytechnik, er Schweinezüchter; sie Buchhalterin, er Schlosser bzw. Maurer.
  2. Arbeitsinhalt der Hausarbeit.
    Hausarbeit trägt im wesentlichen regenerativen Charakter, bewegt sich im Kreis. In ihr dominieren stets wiederkehrende Verrichtungen mit sehr vergänglichen Resultaten: das gereinigte Geschirr, die gewaschene Wäsche, die geputzten Fußböden, entstaubten Möbel werden bei neuer Benutzung wieder verunreinigt, das aufwendig zubereitete Essen ist in kürzester Zeit verspeist usw. Daß gerade die monotoneren, undankbareren Hausarbeiten stärker den Frauen zugewiesen sind, hat sich historisch herausgebildet, ist jedoch nicht unmittelbar biologisch begründet. Ihre Befreiung von dieser einseitigen Rollenzuweisung ist eine Aufgabe von kulturhistorischer Tragweite.
  3. Bedeutung der Kinderbetreuung.
    Fürsorge und Betreuung der Kinder heißt Teilnahme an einer Entwicklung, von der Impulse für die Persönlichkeit der Eltern ausgehen. Das wird besonders deutlich, wenn Eltern Anteil nehmen an der schulischen Entwicklung ihrer Kinder. Je größer die Kinder sind, je mehr sie also kooperationsfähig werden in der Ausübung von Hobbys, Sport und Spiel, je mehr "mit ihnen anzufangen ist", also mit fortschreitendem Familienzyklus wächst oft auch der zeitliche Anteil, den Väter an der Interaktion mit ihren Kindern nehmen.Verweis!
  4. Freizeitgestaltung.
    Hier können vier Formen unterschieden werden, die von uns noch nicht differenziert untersucht werden konnten:
  1. individuelle Beschäftigung mit Hobbys innerhalb der Familie,
  2. individuelle Aktivität in Freizeitkollektiven außerhalb der Familie,
  3. gemeinsame Freizeitgestaltung innerhalb der Familie
  4. gemeinsame Teilnahme der Familie an außerhäuslichen Aktivitäten.

Inhaltlich ist das Spektrum sehr breit. Gerade das familienbezogene Freizeitangebot ist auch unter ländlichen Bedingungen gegeben, jedoch weiter zu entwickeln.

Die gesellschaftlichen Anstrengungen für eine gute Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie können sicherstellen, daß eine Frau sich während der Normalarbeitszeit beruflich ebenso stark engagiert, wie ein Mann, der Vater ist. Anforderungen, die darüber hinaus greifen, tangieren das Familienleben. Eine Frau in leitender Stellung, eine Mutter, die Lehrgänge, Konferenzen usw. besucht, Dienstreisen wahrnimmt u.dgl., bedarf dabei der Unterstützung der Familie durch situationsbedingte Umverteilung der häuslichen Arbeiten. Wo die entsprechenden Bedingungen nicht gegeben sind, sind also die familialen Voraussetzungen für Gleichheit der gesellschaftlichen (beruflichen, politischen, kulturellen) Situation von Männern und Frauen im ganzen nicht gegeben.

Trotz der zuletzt gemachten Einschränkung, die nicht nur auf den ländlichen Bezugsrahmen geschnitten ist, muß festgehalten werden, daß auch in den Familien der Genossenschaftsbauern der Übergang von der patriarchalischen zur partnerschaftlichen Familie grundsätzlich vollzogen ist, auch wenn die Gegenwirkung von Traditionen und Lebensumständen noch stark präsent ist.


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