3. Familie - Sozialstruktur - Sozialpolitik

3.1. Zum Problem der Zuordnung bestimmter Familien zu bestimmten Klassen und Schichten

 

In der soziologischen Literatur der DDR wird weitgehend von einer klassenbezogenen Typisierung der Familien ausgegangen, obwohl auch das geringe Maß der wissenschaftlichen Absicherung solcher Korrelierung außer Frage steht. Auch heute noch muß festgestellt werden, "daß bisher keine Erforschung der Vermittlungsglieder und -faktoren zwischen den sozialökonomischen Verhältnissen der sozialistischen Gesellschaft, der diesen Verhältnissen entsprechenden Sozialstruktur und darauf generell basierenden sozialistischen Lebensweise einerseits und den dieser Lebensweise immanenten sozialistischen Familientyp stattgefunden hat."Quelle!

Nicht hinreichend bewiesen ist daher die Behauptung, "daß jede Gesellschaftsformation ihre klassen- und schichtspezifisch geprägten Familientypen hervorbringt." Aus dieser Behauptung wird jedoch abgeleitet: "Die genossenschaftsbäuerliche Familie ist ein Familientyp der sozialistischen Gesellschaft."Quelle!

"Das klassentypische soziale 'Profil' genossenschaftsbäuerlicher Familien wird durch solche Faktoren geprägt, die auch den drei wesentlichen Momenten der Klasse der Genossenschaftsbauern - eine genossenschaftlich organisierte, agrarisch produzierende und auf dem Lande lebende Klasse zu sein - zu Grunde liegen."Quelle!

Dazu zählt Ingrid Krambach "sozial homogene genossenschaftsbäuerliche Familien in dem Sinne, daß beide Partner zur Klasse der Genossenschaftsbauern gehören" und "im weiteren Sinne" auch "heterogene Familien - in denen nur ein Ehepartner der Klasse der Genossenschaftsbauern angehört."Quelle!

Hier taucht bereits die Frage auf, warum die Familie in der Typisierung nach der Klassenzugehörigkeit des Partners, der Genossenschaftsbauer ist, und nicht nach der des anderen Partners erfolgt.

Mit der Vergesellschaftung der Produktion hat die Familie aufgehört, eine Institution zu sein, in der Privateigentum an Produktionsmitteln vererbt und reproduziert wird. Noch immer übt die Familie einen maßgeblichen Einfluß auf die Platzzuweisung der nachwachsenden Generationen in der Klassen- und Sozialstruktur aus; dieser trägt jedoch nicht mehr den Charakter einer Determination. Die Aneignung der materiellen Voraussetzungen des Familienlebens erfolgt nun über das Einkommen, das die Eltern durch Teilnahme an der vergesellschafteten Produktion erlangen. Durch Qualifikation und Wechsel ihrer Tätigkeit können diese Individuen ihren Platz in der Klassenstruktur leichter als je zuvor verändern. Das gilt prinzipiell für Mann und Frau gleichermaßen.

"Die Tätigkeit mindestens eines Ehepartners in der Landwirtschaft hat auf Grund der Besonderheiten der Agrarproduktion wesentlichen Einfluß auf den Lebensrhythmus der Familie, die Organisation des Familienlebens, auf die gesamte familiale Lebensweise."Quelle!

Zu fragen bleibt jedoch, ob diese tätigkeitsbezogene Argumentation nicht gleichermaßen auf alle Tätigkeitsgruppen zutrifft, deren Arbeitszeitrhythmus Besonderheiten aufweist (Ärzte, Eisenbahner, Seeleute, Monteure, Angehörige der bewaffneten Organe).

Drei weitere Argumente führt I. Krambach an, um die Familie, deren einer Elternteil Genossenschaftsbauer ist, der Klasse zuzuordnen:

  1. Das Wohnen auf dem Dorf,
  2. Das Betreiben einer individuellen Hauswirtschaft und
  3. die Herkunft.Verweis!

Da es sich hier um Gesichtspunkte handelt, die auch für andere ländliche Familien gelten, können auch sie nicht als tragend angesehen werden.

Der Kern des Problems liegt in der Beziehung zwischen Aneignungsweise (Eigentumsverhältnissen) und Familie. Welche realen qualitativen Unterschiede es für die Charakteristik der Familie mit sich bringen soll, ob ihre erwachsenen Mitglieder die materiellen Voraussetzungen ihres Lebens genossenschaftlich aneignen oder im Rahmen des staatlich organisierten Eigentums, ist für uns nicht auszumachen.

Solange das einzelbäuerliche, patriarchalisch dominierte Familieneigentum Klammer und Existenzgrundlage der Familie darstellte, war die Beziehung zwischen der Klassenposition der Individuen und der Familie eindeutig. Mit dem genossenschaftlichen Zusammenschluß im Rahmen einer sozialistischen Umgestaltung der gesamten Lebensverhältnisse treten die Produzenten aus dem familialen Rahmen heraus, gehen Funktionen wie Organisation der Produktion, aber auch die Sicherung der Individuen "gegen die Wechselfälle des Lebens" auf eine höhere Einheit über, ändert sich vor allem die gesellschaftliche Stellung der Frau, die als juristisch gleichgestellte, ökonomisch selbstbestimmte, gesellschaftlich aktive, gebildete und qualifizierte Persönlichkeit aus der Unterordnung unter patriarchlisch bestimmte Familieninteressen heraustritt.

Während die Einzelbauernschaft durch sozialökonomische Barrieren, die als Heiratsschranken in Erscheinung traten, in sich segmentiert und nach außen relativ abgeschlossen war, verflechten die Genossenschaftsbauern von heute ihre "Familienbande" mehr und mehr mit allen anderen Klassen und Schichten der Gesellschaft. Darauf verweist auch das von I. Krambach verarbeitete empirische Material. "Tendenziell scheint sich eine Zunahme der heterogenen genossenschaftsbäuerlichen Familien abzuzeichnen. Die Annahme solch einer Tendenz ergibt sich daraus, daß mit zunehmendem Alter der Probanden der Anteil homogener bzw. mit abnehmendem Alter der Anteil heterogener genossenschaftsbäuerlicher Familien ... zunimmt."Quelle!

Welchen Stand innerhalb dieser Entwicklung weist unser eigenes empirisches Material aus?

Nachstehend werden Ergebnisse der ALB 84 und der LebiGd 88 wiedergegeben. Beide Befragungen, deren Probandengut nicht identisch war, geben in der Sache ähnliche Ergebnisse.

 
Tabelle 13:
Klassenhomogenität oder Heterogenität der Partnerschaften von Genossenschaftsbauern in %
ProbandenBefragung Antwortendavon homogeneheterogene Partnerschaften
InsgesamtALB 84 14548,351,7
LebiGd 8832263,736,3
weiblicheAlb 8458,741,3
LebiGd 8870,629,4
männliche Alb 84 22,0 78,0
LebiGd 88 33,3 66,7
 

Trotz quantitativer Differenzen verweisen beide Erhebungen in folgenden Punkten auf Analoges:

  1. Zwischen 50 und 60 % der partnerschaftlich gebundenen Genossenschaftsbauern sind mit einem Partner gleicher Klassenzugehörigkeit verheiratet. Das deckt sich mit der Aussage bei I. Krambach.Verweis!
  2. Die Aussagen der Befragungen werden stark modifiziert durch die geschlechtsmäßige Zusammensetzung des Samples. Männliche Genossenschaftsbauern sind in weit geringerem Maße mit einer Partnerin gleicher Klassenzugehörigkeit verbunden. Diese Tendenz muß schon in dem Maße zunehmen, wie der Frauenanteil innerhalb der Klasse abnimmt. Bemerkenswert ist aber, daß auch von den Genossenschaftsbäuerinnen weniger als 70 % mit einem Genossenschaftsbauern verheiratet sind.
  3. Da sich im Partnerwahlverhalten sozialstrukturelle Veränderungen tendenziell niederschlagen, ist davon auszugehen, daß sich das Bild von Generation zu Generation verändert, worauf ja gleichfalls I. Krambach hinwies. Eine altersmäßige Splittung unseres Probandengutes ist wegen zu geringer Besetzung nicht aussagefähig.
  4. Ausgehend von Tätigkeitsmerkmalen und sozialer Schichtung innerhalb der Klasse der Genossenschaftsbauern ist auch eine entsprechende Differenzierung des Partnerwahlverhaltens erkennbar.

Der Anteil der mit Angehörigen der gleichen Klasse verheirateten Genossenschaftsbauern differiert (LediGb 88) zwischen den Tätigkeitsgruppen wie folgt:

 
Bereichin %
Sozialbereich:75,0
Produktionsbereich:66,9
Verwaltung:61,6
Leitung:54,3

Das deutet darauf hin, daß die sozialstrukturelle Mobilität innerhalb der Klasse nicht gleichmäßig entwickelt ist.

3.2. Zur Rolle der Familien bei der Regeneration der Klasse der Genossenschaftsbauern und der ländlichen Sozialstruktur

Das Verhalten der Individuen wird bestimmt von ihren materiellen Interessen und der Art, wie ihnen diese Interessen zu Bewußtsein kommen. Die Gestaltung derjenigen Beziehungen, die an die objektiven Interessen der Individuen, Klassen und der Gesellschaft gebunden sind, ist daher entscheidend für die angestrebten Resultate. Im Lichte dieser Grundposition soll daher gefragt werden, welche Rolle die Familien bei der Reproduktion der jeweiligen Sozialstruktur spielen und welche Akzente bei der weiteren Gestaltung der diesbezüglichen gesellschaftlichen Beziehungen gesetzt werden sollten.

Individuen, Kollektive, Klassen und Schichten der sozialistischen Gesellschaft sind in einem entwickelten gesellschaftlichen Organismus verbunden und daher objektiv an einer proportionalen Entwicklung aller Teile dieses Organismus interessiert. Diese Interessen stellen sich auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich dar, sind aber durch bewußte Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ständig in Übereinstimmung zu bringen. Die Gesellschaft als Ganzes hat das Interesse, daß sich die Individuen optimal auf die gegebene räumliche und funktionale Struktur der Produktivkräfte, auf das gegebene Netz von Arbeits- und Wohnplätzen verteilen. Die Klasse der Genossenschftsbauern ist interessiert an der Gewährleistung einer prosperierenden genossenschaftlichen Produktion, also auch an der Sicherung der entsprechenden personellen Voraussetzungen. Die Familien sind an befriedigenden Arbeits- und Lebensbedingungen aller ihrer Mitglieder interesssiert, und die Individuen an der Befriedigung ihrer materiellen und kulturellen Bedürfnisse. Zwischen diesen Interessenebenen bestehen keine Gegensätze, sie bedingen einander vielmehr. Übereinstimmung von Interessen bedeutet jedoch nicht automatisch, daß sie auch als Triebkräfte wirksam werden.

Auch I. Krambach konstatiert, "daß genossenschaftsbäuerliche Familien unzureichend oder gar keinen Einfluß darauf nehmen, daß aus der eigenen Familie Kinder als Berufs- und Klassennachwuchs gewonnen werden. Gegenüber der einzelbäuerlichen Familie besteht kein Zwang, für die einzelne Familie und deren Existenzsicherung die eigenen Kinder wieder Genossenschaftsbauern werden zu lassen. Auch hängt die Existenz der jeweiligen LPG nicht davon ab, ob von ihren Mitgliedern jede Familie zur personellen Reproduktion des eigenen genossenschaftlichen Eigentümerkollektivs beiträgt."Quelle!

Daß die einstmals schicksalhafte Bindung der Individuen an die Arbeits- und Lebensbedingungen, die gesellschaftliche Stellung, für die sie durch ihre Geburt prädestiniert wurden, aufgehoben ist, gehört zu den progressiven Resultaten der sozialistischen Revolution. Die soziale Mobilität der Individuen ist eine Errungenschaft mit Konsequenzen. Es reicht dabei nicht aus, an die Beteiligten zu appellieren und auf die Karte der Seßhaftigkeit zu setzen. Seßhaftigkeit ist ein passiv bestimmter Begriff, in dem das Moment der Trägheit mitschwingt. Dem gegenüber ist ein Konzept aktiv gestaltender Heimatverbundenheit dialektisch zu bestimmen ("denke global und handle lokal") und als Weltverwobenheit zu realisieren. Es wäre dissonant, in einer Zeit, da wissenschaftlich-technischer Fortschritt nach sozialer Mobilität, einschließlich territorialer Beweglichkeit, verlangt, eine ländliche Seßhaftigkeit zu konservieren. Der Umstand, daß die Homogenität der Klassenzusammensetzung dort am größten zu sein scheint, wo sich ungünstige Arbeits- und Lebensbedingungen mit ungenügender subjektiver Mobilität kumulieren ("homogene genossenschaftsbäuerliche Familien arbeiten häufiger als ... Handarbeitskräfte"Quelle! bzw. in herkömmlichen Anlagen der Tierproduktion), ist eher bedenklich. Gerade aus den Erfordernissen der Intensivierung der Landwirtschaft ergeben sich qualitative Erfordernisse für die Entwicklung der Klasse, für die die nachwachsenden Generationen zu gewinnen sind.

In der Entscheidung der Kinder für oder gegen eine Zukunft in der Landwirtschaft und im Dorf, spielt die Haltung der Eltern nach wie vor eine ausschlaggebende Rolle.Verweis!

In welcher Richtung die Eltern auf ihre Kinder Einfluß nehmen, ist ein Problem ihres Daseins und Bewußtseins als Eigentümer. In der Aussage "geh woanders hin, damit du es besser hast als wir!", kommt mangelhaftes Perspektivbewußtsein zum Ausdruck. Das ist ein gesellschaftliches, ein genossenschaftliches Problem.

Grundsätzlich steht die Aufgabe, Unzufriedenheit mit den lokalen Arbeits- und Lebensbedingungen an Ort und Stelle zu binden, also in gestaltende Aktivität zu führen. Das ökonomisch-politische Instrumentarium ist vorhanden und wird mancherorts erfolgreich genutzt, z.B. wo Frauenausschüsse und Jugendkommissionen sich auf die Frage konzentrieren: Was ist zu tun, damit mehr Frauen und Jugendliche in unserem Dorf und in unserer Genossenschaft ihre Zukunft sehen?

Die Perspektive ist ein wichtiger Aspekt des Eigentümerverhaltens. An der personellen Zukunft der Genossenschaft und des Dorfes sind objektiv alle interessiert. Es ist stärker erlebbar und erkennbar zu machen. Trotz sozialer Sicherheit haben alternde Menschen nach wie vor ein Interesse daran, an ihrem Lebensabend auch eigene Kinder in der Nähe zu wissen. Und wer einen Aufbau begonnen hat, ist auch daran interessiert, daß er fortgeführt wird.

Der Arbeitskräftebedarf der LPG in Menge und Qualität kann nur langfristig gesichert werden, wenn und in wie weit es gelingt, nicht Individuen, sondern Familien zu binden. Männer und Frauen aller Generationen müssen für sich eine konkrete Perspektive sehen, wenn Regeneration stattfinden, das Kontinuum der Generationen gesichert sein soll. Auch die Sicherung der Lebensqualität der Klasse verlangt dieses komplexe Herangehen an die Fragen der personellen Reproduktion der dörflichen Sozialstruktur.

   

Sie können zur Debatte schreiten im Diskussionsforum zu Fragen der Agrar- und Sozialgeschichte der DDR


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