Verwirrte Geographie meiner Befindlichkeit

Vorbemerkung:

Nicht jede Orts- oder Landschaftsbezeichnung im nachfolgenden Text wird allen Lesern gleichermaßen vertraut sein. Diese geographische Verunsicherung hat mit Geschichte zu tun. Auf erläuternde Ausführungen wurde aus Platzgründen verzichtet, mehr noch aber wegen der Möglichkeiten der Nachforschung, die wir alle haben.

Sie sind also eingeladen, die hervorgehobenen orts- und landeskundlichen Begriffe als Reizwörter aufzugreifen.

"Die Geographiebücher sind die wertvollsten von allen. Sie veralten nie." Das sprach der kauzige Gelehrte zum kleinen Prinzen, und er war sich vollkommen gewiß, daß es sehr selten sei, daß ein Berg seinen Platz wechsle und daß ein Ozean seine Wasser ausleere.

Natürlich lachen wir über solche Einfalt, aber wir lachen wohl etwas gequält, sofern wir zu Hause sind irgendwo zwischen den Rügener Kreidefelsen mit dem Königsstuhl, dem Lausitzer Berg Oybin, der Festung Königsstein, der Wasserkuppe, dem Brocken und der Lübecker Bucht.

Hier symbolisieren Landschaften Geschichte, die sich ungut zieht vom Ettersberg über die Seelower Höhen und Potsdam Sanssouci, weiter über Fünfeichen, die Bernauer Straße in Berlin bis auf die gigantische Müllkippe Schönberg in Mecklenburg und einen Silbersee bei Bitterfeld.

Eine deprimierende Landschaftsbesichtigung, zweifellos. Wie anders soll es denn sein, das Gefühl, nachdem der wissenschaftlich deklarierte Menschengroßversuch, von deutscher Misere durchzustarten in ein luftiges Kleiner-Leute-Paradies ruhmlos im märkischen Sande verlaufen ist? Wie lange werden Eisenhüttenstadt, Schwedt, Hoyerswerda, Halle-Neustadt und die Großfluren der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften noch sinnfällig von einer Utopie zeugen, die ihre eigenen Kinder in eifersüchtiger Umarmung erdrückt hat, und an der sich die Geister schon wieder scheiden?

Das ist so überraschend schnell zu Ende gewesen, daß es für alle - Involvierte, Statisten und Beobachter - in Ost und West kaum faßbar war. So schnell enden eigentlich nur Kartenhäuser. Und leicht wie Spielkarten schien manchem zunächst auch die Konkursmasse. Die sei nur zünftig aufzunehmen, neu zu mischen und auszuteilen. "Ja ja ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt!"

Wie soll sie eigentlich heißen, die neueste Spielstätte des neuesten deutschen Staatstheaters? Ehemalige DDR? - Das sagt, was es war und nicht mehr ist! Beitrittsgebiet? - Welch klirrend kaltes Statement nach einer hastigen politischen Operation, die als geglückt zu bezeichnen, sich die einen noch nicht und andere nicht mehr getrauen. Fünf neue Bundesländer? - Eine etwas umständlich klingende Sammelbezeichnung mit unverkennbar provisorischem Sinn.

Aber was sagt "man" denn jetzt? ... Große Verlegenheit, am Morgen danach ... Am Morgen nach dem grenzenlosen Jubel über die gebrochene Jahrhundertmauer.

Die Sprache ist überrumpelt und verunsichert. Leute sprechen noch immer von Osten und Westen, von Hüben und Drüben, aber sie entschuldigen sich im nächsten Moment schon erschrocken, denn "das sagt man jetzt nicht mehr!"

Was die Ostdeutschen von den Westdeutschen trennt, ist mehr als ein Wohlstandsgefälle. Hinter uns liegen vier Jahrzehnte getrennter Wege. Die Ostdeutschen schauten wohl ständig zu ihren westdeutschen Nachbarn hinüber, aber sie mußten das vorwiegend durchs Schlüsselloch, durchs blaue Fenster des Fernsehempfängers tun. Die alljährlichen Päckchen aus dem Westen und gelegentliche Besuche zu runden Familienfesten ließen teilhaben an dem Film, der da ohne uns lief, und den mancher für "Alltag im Westen" hielt.

Die Westdeutschen hatten derweil anderes im Kopf und unter den Sohlen. "Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein ...". Europa war ihnen bald zu naheliegend. Und ich selten dummes Schaf, das sich nicht einmal eingesperrt gefühlt hat, denk noch immer, "Das kann doch nicht wahr sein", wenn es aus dem Lautsprecher ruft: "Frankreich - unser Nachbarland!" Für Westdeutsche ganz klar. Für Ostdeutsche ist das eine neue Geographie, obwohl wir das natürlich schnell vergessen machen wollen.

Wir Ostdeutschen haben sie nicht mitgemacht, die fiebrigen Fünfziger, die aufwühlenden (Achtund)sechziger, die satten Siebziger und die immer noch selbstsicheren achtziger Jahre der Bundesrepublik. Daß umgekehrt auch die Westdeutschen nicht unser Ostleben durchlacht und durchweint haben, scheint zur Zeit noch ohne Bedeutung zu sein, fragen wir selbst doch noch ganz irritiert, was das denn für ein Leben war, und was es jetzt noch Wert ist.

Da ist großer Nachholbedarf im Osten, bis der Standard stimmt. Weitherziger gesagt: da sind Möglichkeiten, manches anders zu machen! - Darauf komme ich über den Wolken, beim überfliegen - Deutschland liegt ganz unten. Ich Rede mit einer sympathischen Architektin. Wir sprechen von den Bausünden des Aufschwungs West, davon, wie sehr die Saarbrücker bedauern, ihren Fluß zubetoniert zu haben. Da schwärmt sie von Dresden, von der Elbe, die dort noch frei (obgleich sehr unrein) über ihre Flußwiesen spült. Gemeinsam ahnen wir ohnmächtig, daß Bauspekulation und Wachstumsfanatismus Dornröschen schon bald tanzen lassen werden nach dem neuesten Hip-hop. Zeig her Deine (Investitions)reize, Aschenputtel! Spinn stille Alleen zu Schnellstraßen, Marie! Dein Kind ist schön (Seine Maße hat ein Münchner Männermagazin schon längst kartographisch taxieren lassen: Wer ist besser gebaut und treibt es öfter, die aus Thüringen oder die aus Mecklenburg?). Dies tugendsame Kind hat sich noch nicht gepanzert für die Verletzungsgefahren des freien Westbewerbs. Es wird manchmal auch noch trotzig böse, wenn es merkt, daß es nicht richtig mitspielen darf. - Das Thema Deutschland geht uns auf die Nerven, noch ehe es wirklich ausgebreitet ist.

Was werden die Ostdeutschen aus sich und ihren fünf (mit Berlin sechs) Ländern machen? Ich hoffe das Beste und fürchte das Schlimmste. Viel hängt davon ab, daß sie eine Identität finden in Selbstachtung. Sie werden sich noch öfter daneben benehmen, genauso (und doch anders) wie viele Glücksritter auch, die über Deutsch-Wildost gekommen sind.

Die Gewißheiten der DDR verloren, haben sich einige wie Ertrinkende an den Mythos eines Deutschland-über-alles gehängt. Hoyerswerda und Hünxe, Greifswald und Göttingen, Eberswalde und jetzt Rostock - so also lernen wir Ortsnamen? Die schlechten Nachrichten machen uns mit der Geographie vertraut, wohl unter Linden, wo wir noch suchen, was wir nicht Finden: ein deutsches Mutterland oder etwas anderes Schlichtes.

Deutschland - das war schon immer etwas schwer Bestimmbares über dem Alltag vieler Stämme. Wer wird es wagen, Bayern und Hanseaten, Pfälzer und Saarländer in einen Topf zu stecken? Vielleicht wird vieles doch noch föderal und gut, wenn sie nur vorurteilsarm neugierig aufeinander sind, die Ost-, Anhalter- und Niedersachsen, die Havel- und die Sauerländer, die Spree- und die Odenwälder, die sächsischen und die holsteinischen Schweizer. Sie mögen sich nur kräftig vermischen, die Preußen vom Rhein mit denen von der Spree!

Noch heißt es Ex-DDR oder (vorwärtsgerichtet) "fünf neue Bundesländer". Daß sie sich ihr Sachsen, ihr Thüringen, ihr Sachsen-Anhalt, ihr Brandenburg, ihr Berlin, ihr Mecklenburg und (hinter dem Bindestrich) ihr Vorpommern schaffen, daß sie in einer landschaftlichen wurzeln, ist noch ein Glück - auch für ein Europa der Regionen. Und vielleicht sind Geographiebücher gerade darum wertvoll, weil sie auch veralten.


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