Ein Foto, das jt am Rednerpult im Theater Greifswald zeigt© Foto: Jürgen Peters, Greifswald
Aufgenommen im Theater Greifswald am 29. April 2000

Rede zur Jugendweihe

gehalten im Theater Greifswald am 22. Mai 1993

Kinder sind Eltern geworden und ihre Kinder stehen auch schon wieder an der Schwelle zum eigenverantwortlichen Leben.

Jedes einzelne Leben wird, wächst und vergeht. Aus den vielen einzelnen Lebenstropfen speist sich ein urgewaltiger Strom. Seine Wellen sind die Generationen. Sie drängen heran, entfalten sich und müssen Platz machen für die Nachrückenden.

Jetzt seid Ihr es, die dieser Strom empor getragen hat zu jener besagten Schwelle, hinter der die Kindheit zu Ende ist.

Nicht lange, und Ihr werdet im Fluß der Generationen an die Stelle Eurer Eltern, Lehrer und älteren Anverwandten rücken. Neue Generationen werden nachdrängen, solange der faszinierende Strom ungebrochen ist.

Ihr habt Euch hier zusammengefunden mit denen, die an Eurem Werden und Wachsen Anteil genommen haben - meist von Anfang an. Die heute und hier hinter Euch sitzen, werden sich erinnern, wie hilflos Ihr zur Welt gekommen seid.

Kein anderes Lebewesen ist so lange und so sehr angewiesen auf die Hilfe seiner Artgenossen, wie das Menschenkind, das ohne Gemeinschaft nicht sprechen und nicht denken könnte. Ob wir es mögen oder nicht - Wir sind angewiesen auf die Menschengemeinschaft, auf ihr Fließgleichgewicht von Geben und Nehmen.

Besonders am Anfang und am Ende des Lebens müssen wir mehr nehmen als wir geben können. Dann tragen uns Liebe und Zuneigung anderer, und wir vergehen in Schmerz, wenn wir vergeblich auf Zuwendung hoffen.

Zwischen Anfang und Ende aber ist viel Raum, wo wir das einbringen können, was wir selbst einmal brauchen werden.

Ich bin sicher öfter und stärker auf Hilfe angewiesen als Ihr es seid. Oft, wenn ich allein unterwegs bin in Bahnhöfen und unvertrauten Städten, bieten mir fremde Menschen Hilfe an (Die vielen, die achtlos vorüber hasten, nehme ich ja kaum wahr). Unter den freundlichen Mitmenschen finden sich immer auch solche, die mit fremder Zunge zu mir sprechen, solche, die oft pauschal geschmäht werden als Parasiten, obwohl in Westdeutschland schon kaum noch ein Krankenhaus oder Altersheim funktionieren würde ohne italienische oder tamilische Pflegerinnen. Der "verdammte Kanake" ist vielleicht ein hoch spezialisierter persischer Arzt, der in einem deutschen Operationssaal schuftet.

Mißtraut den Pauschalurteilen, die den einzelnen Menschen in einem schemenhaften Zerrbild verschwinden lassen. Den Polen, den Juden, den Araber, den Türken, den Deutschen, den Wessi, den Blinden - sie alle gibt es nicht. Sie sind Trugbilder, ohne die keine Zwietracht zwischen Menschen, Völkern und Rassen funktionieren könnte.

Ihr seid hier versammelt mit Euren Eltern, Mitschülern, Lehrern (soweit diese sich nicht von Frau Schnoor schrecken ließen) und Euern Verwandten. Mit der Weihe in dieser Gemeinschaft bekräftigt Ihr einen Bund, der Sicherheit und Geborgenheit für die Momente verspricht, in denen Ihr sie braucht. Diese Werte sollten wir hochhalten, gerade auch in einer Welt, die die individuelle Freiheit feiert und auf Dynamik und Mobilität schwört. Ihr könnt viel erreichen in dieser Welt. Euch bindet nicht mehr die Stallwärme, in der ich noch aufgewachsen bin. Das gehabte Herdendasein schützte und behinderte zugleich. darin war der Platz des Einzelnen fast schon so sicher, als wäre er vorbestimmt. und der Abweichler, das "schwarze Schaf", das diesen beschaulichen Frieden störte, wurde zurechtgestoßen oder weg gebissen. Bürgerliche Freiheit, wie wir sie jetzt leben sollen, toleriert das Anderssein, was oft genug bedeutet: Es interessiert einfach nicht, was der andere tut und läßt, was ihm widerfährt. Diese gesellschaftliche Verfassung setzt große Energien frei und kann hoch hinauf tragen, aber in ihr kann einer auch untergehen, wenn er sich nicht kümmert um sich selbst, wenn er den Spielregeln nicht gewachsen ist, wenn er nicht zugeht auf die Gelegenheiten seines Glückes.

Ich arbeite zur Zeit in einem westlichen Bundesland. Ich treffe viele Leute, die kontaktfreudig und top-fit auf Herausforderungen, auf Unbekanntes und Neues zugehen, die sich Lebensräume geschaffen haben, in denen sie sich selbstsicher und frei bewegen, in denen sie zu genießen wissen, die sie mit Lust und Kreativität gestalten. Ich treffe viele Leute, die singularisiert sind, die also ihre Besonderheit ausleben, die sich sogar in ihren Partnerschaften die Möglichkeit des Rückzugs in die Autonomie offenhalten, in der sie unverletzbar zu bleiben hoffen. Es sind Menschen, die in fester Partnerschaft leben, und doch ihre eigene Wohnung und ihren eigenen Lebenskreis aufrechterhalten.

Doch immer, wenn gestylte Macher laut und fröhlich ihre Selbstsicherheit und Fitness zur Schau stellen, frage ich mich, was hinter der Fassade verborgen ist, wieviel Einsamkeit, Leere und Angst da versteckt wird. Alle wissen ja: Die Welt des Erfolges mag keine Verlierer! Und sie kommt doch nicht aus ohne Verlierer.

Wie auch immer, das Leben wird Euch mit sich fortreißen. Es wird Euch vielleicht weit hinaustragen in Unbekanntes, Ungeahntes. Ihr selbst werdet Euch hineinstürzen, denn vieles ruft nach Euch. Herausforderungen und Genüsse gibt es unendlich viele in der weiten Welt. Es werden aber auch Momente kommen, in denen Ihr Euch umschaut nach Euren Verwurzelungen, die Rückhalt und Zuflucht für alle Fälle versprechen. Jeden Menschen verlangt es wahrscheinlich einmal danach, dahin zurückzukehren, woher er gekommen ist. Er oder sie kehrt dann tatsächlich in eine Umgebung zurück, die in vielem anders und fremd geworden ist, weil unbekannte Leute, während wir nicht da waren, ihre eigenen Spuren eingegraben haben.

Zu Hause aber bleiben wir dort, wo die Erinnerungen wohnen, wo wir Menschen wissen, mit denen wir Geschichten und Erfahrungen teilen. Ihr seid hier versammelt in einer solchen Gemeinschaft. Hinter Euch sitzen hier Menschen, die Anteil genommen haben an Eurem Heranreifen. Versichert Euch dieser Gemeinschaft für die unvermeidlichen, unausbleiblichen Augenblicke der Einsamkeit und Schwäche, die zum Leben gehören. Wer die Gemeinsamkeit gegenseitigen Gebens und Nehmens hegt und Pflegt, wird durch die Wärme belohnt, die auf ihn zurückstrahlt.

Ihr seid gereift und erhaltet heute die Weihe der Jugend. Ihr habt Anspruch auf Respektierung Eurer Persönlichkeit. Ihr habt jetzt Anspruch darauf, von fremden Leuten mit "Sie" angesprochen zu werden! Auch ich tue das von diesem Moment an.

Biologisch wären Sie - eben selbst noch Kinder - in der Lage, eigene Kinder zu zeugen und auszutragen. Freilich, sie werden damit warten - im statistischen Durchschnitt Westdeutschlands noch dreizehn Jahre (In der DDR-Gesellschaft wären es nur noch sechs Jahre gewesen, immer im Durchschnitt gesehen, natürlich).

Indem Sie bestimmen, wer zu Ihnen "Sie" sagen muß und wer "Du" sagen darf, gebieten Sie über das Maß von Nähe oder Ferne zu Ihrer Persönlichkeit. Diese Souveränität ist noch brüchig, wie die Stimme des Jungen im Stimmbruch, und wird noch oft genug verletzt werden. Es ist vielleicht besser, sie deshalb nicht allzu wichtig zu nehmen. Trotzdem, Menschen, die unerlaubt die Schwelle zum "Du" überschreiten, nehmen es oft mit der Menschenwürde nicht so genau. Der Gewalttäter wechselt zum "Du", um deutlich zu machen, daß er die Integrität seines Opfers mißachtet. Zu Betrunkenen, Ausländern und Behinderten sagen viele Leute einfach "Du", weil sie sich weit überlegen wähnen.

Neben dem traulichen und dem herablassenden "Du" gibt Es auch dasjenige "Du" der unverbindlichen Oberflächlichkeit. Im größten norddeutschen Funkhaus erlebte ich einmal ein eingespieltes Team. Producerin und Moderatorin wirkten freundschaftlich verbunden und sehr vertraut miteinander. Ich war daher nicht wenig überrascht zu erfahren, daß sie jenseits ihrer Gemeinsamen Arbeit rein gar nichts voneinander wußten. Natürlich habe ich auch ganz andere, gegenteilige, also gute Erfahrungen machen können. Die Wahrheit des Lebens ist eben zu groß, um für unsere kleinen Erfahrungs- und Denkhorizonte passend gemacht werden zu können.

Zu den skuril rührenden Geschichten, die das Leben geschrieben hat, gehört die innige Liebesbeziehung der beiden, die bis ins hohe Alter, bis ans Lebensende "Sie" zueinander gesagt haben, ohne darin komisch zu wirken. Das waren Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Doch hier ist nicht der Ort, solche Geschichten zu erzählen. Sie, liebe Freunde, werden eigene Geschichten machen, und mir bleibt nur, Ihnen zu wünschen, daß diese Geschichten immer zu Ihrer Zufriedenheit ausgehen mögen.


© by Juergen Trinkus, 1993

  • Manuskript einer Sendung des Kirchenfunks des Saarländischen Rundfunks mit O-Tönen
  • Meine letzte Greifswalder Jugendweiherede