Zugige Ansichten eines Pendlers

"Ach, aus Greifswald sind sie! Strahlen sie?"

"Nein, ich bin doch nicht aus Stra(h)lsund", versuche ich einen schalen Witz, der auch wirklich ankommt bei meinem Gegenüber im SchienenJet zwischen Frankfurt und Hamburg, im Inter-City-Express mit dem strahlenden Namen "Diamant". ICE - das sind bekanntlich jene Züge, für die der "Spiegel" die stilgerechte Reiselektüre ist. Da kann sich der Leser bequem zurücklehnen und bei einer maximalen Reisegeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern lesen, in wieviel Sekunden die Kids in Greifswald einen Nobel-Opel knacken.

Meine Hansestadt ist durchaus im Gespräch. Daß sie den Reisenden zwischen Weiß-Nicht-Wo und Irgendort ein Begriff ist, hat leider nur selten mit Ernst Moritz Arndt zu tun und nur manchmal mit Professorenbildern.

"Greifswald, ja, warten sie ... Das habe ich doch schon mal gehört... Liegt das nicht bei Hoyerswerda?" - Aus lauterer Lust an weiterem Gespräch unterdrücke ich den Aufschrei "Nein, bitte nicht schon wieder!"

"Hört mal, nach Greifswald fahren richtige Fernzüge! Zum Beispiel einer ab Hamburg-Altona!" - "Aber nicht doch! in welchem Fahrplan soll denn der Beweis für diese anmaßende Behauptung stehen?" -

Natürlich in keinem!

"In den D-Zug nach Stralsund bitte einsteigen!" ruft es aus den Bahnhofslautsprechern zwischen Hamburg und Damgarten-West. Und ein hessischer Fahrkartenverkäufer schwört bei der Verläßlichkeit seines Computerterminals, daß es zur besagten Stunde nur einen Zug von Altona nach Stralsund gäbe.

Auch im Diskettenfahrplan, den der schienenfreundliche Verkehrsclub Deutschland vertreibt, kommt Greifswald folgerichtig nicht vor.

Allein die nette Zugbegleiterin der Deutschen Reichsbahn, die in Lübeck zusteigt, scheint es besser zu wissen. Sie raunt mir bei der TicketKontrolle zu: "Sie können bis Greifswald durchfahren."

Es ist Freitag, und da strömen sie zusammen, die Tages- und Wochenpendler, die nach Hause wollen, die sich nicht losreißen können von ihrem Bundesland mit dem schütteren Bindestrich, die Pendler, die von vielen Daheimgebliebenen schon abgeschrieben worden sind, was sie zu Niemandslandbewohnern macht.

Der D-Zug hält sogar in Velgast, aber das letzte Stück von Stralsund nach Greifswald darf er sich nur noch Personenzug nennen. Westlich vom Bindestrich, in Mecklenburg, heißt so was schon neudeutsch "Nahverkehrszug".

Warum, ihr Eisenbahner, verheimlicht ihr auf euren stählernen Wegen, daß der D-1037 von Hamburg-Altona bis ins ferne Greifswald fährt? Die nette Schaffnerin weiß es auch nicht, sagt sie. Die Eisenbahnoberen werden sich schon etwas dabei gedacht haben, als sie daran gingen, die hiesige Reichsbahndirektion zu demontieren, gewissermaßen auch rituell: Hinter nach Vorpommern fahren zwar Inter-City-züge, aber die enden, wie die Glasfaserkabel der Telekom, in Stralsund. Von Greifswald aus wird nun wohl keine Verkehrspolitik für eine florierende Linie Malmö-Berlin-Prag-Budapest-Orient mehr zu machen sein. Schade um jeden Traum, der so versickert.

Deine Leute, du Hansestadt, die an dir hängen, auch wenn sie noch so weit auspendeln, sie brauchen, daß gut gesprochen wird von dir weit und breit. Andere Städte im Umkreis waren geschäftstüchtiger, als es beispielsweise darum ging, den eigenen Rang zu erhöhen durch Ansiedlung von Behörden und anderen Gewichtigmachern. Achte mit Eifer auf deinen Vorteil, meine Stadt!

Ich steige am Freitag Abend aus dem Zug und atme tief ein. Diese würzig reine Luft, die gibt es so nur daheim. Heimat freilich hat stets mehr Gründe.


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