Vom Sündenbock und anderen Juden

Einer muß büßen. Man nennt ihn Sündenbock. Der muß büßen für die Bedrängten, damit sie sich wieder frei fühlen können, frei von Beengungen, Ängsten und Vorwürfen im eigenen Leben. Der Sündenbock geht dahin als Stellvertreter. Die ihn opfern, hoffen, ihr eigener Ärger sterbe mit ihm. Natürlich trügt der Schein. Aber, wie so oft, genießt auch der Betrogene den Betrug.

Aus Büchern kenne ich die Befindlichkeit biederer amerikanischer Provinzstadtbewohner, in deren unscheinbarem Leben oft zu viele Träume begraben worden sind. Es gibt Milieus, die Emotionen in der Tiefe anhäufen, Emotionen, die sich im Rausch der Gewalt orgasmisch entladen können, beim Lynchen eines dunkelhäutigen Verführers einer hellhäutigen Hausfrau zum Beispiel.

Wie belastbar ist die Politur aus Kultur, die uns vor der Barbarei schützt?

Irrationale, also vom Verstand nicht mehr kontrollierbare Überreaktionen, Entladungen, Gefühlsausschüttungen sind ja auch Ausdruck von Rat- und Hilflosigkeit. Unserem Volk wurde in diesen Herbst- und Winterwochen ein doppelter Schock versetzt. Die Enthüllungen haben unübersehbar gemacht, daß Machtmißbrauch und schamlose Aneignung gesellschaftlichen Mehrprodukts keine zufälligen Entgleisungen waren, sondern systematisch betrieben wurden von einer Politaristrokratie, versteckt hinter Idealen, für die Millionen Menschen in diesem Land mit gutem Gewissen und schwer gearbeitet haben.

Und der andere Schock wartete jenseits der Mauer. Erdichtete Dynamik hier kontrastierte für die Vielen, innerlich unvorbereiteten DDR-Bürger unvorstellbar kraß mit einem materiellen Kulturniveau dort, das ungeahnte Lebensqualität möglich scheinen läßt.

In solchem Zusammenbruch falscher Bilder fällt es schwer, ruhig zu bleiben und nüchtern zu wägen. Vielleicht sind dabei die Worte hilfreich, die der große indische Staatsmann Nehru vor fast 59 Jahren an seine Tochter Indira schrieb. Gestatten Sie, daß ich zitiere.

Kultur und Zivilisation sind schwierig zu definieren, und ich unternehme auch gar nicht den Versuch dazu. Aber zu den vielen Dingen, die Kultur ausmachen, gehört ganz gewiß Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme auf andere. Wenn ein Mensch weder Selbstbeherrschung noch Rücksichtnahme besitzt, kann man mit Fug und Recht von ihm behaupten, daß er unkultiviert ist.Zitatenquelle

 Ende des Zitats.

- - - Den Zustand unserer Kultur eindeutig zu bestimmen, dürfte schwierig sein. Bislang waren die Belastungsproben für unsere Zwischenmenschlichkeit recht gering. Eigentlich kennt der DDR-Bürger nicht Ungewißheit des morgigen Tages, Angst vor Verlust seines Arbeitsplatzes, der materiellen Grundlage seiner Existenz. Diese soziale Sicherheit - so spartanisch sie jetzt auch scheinen mag - hat viel Humanität lebbar gemacht. Hinter einer Mauer, unter einer Glasglocke sozusagen, freuten wir uns an diesem Pflänzchen Menschlichkeit. Wird es genug widerstandsfähig sein in den Unwägbarkeiten und rauhen Winden sozialer Zerreißproben, die ich nicht heraufbeschwören möchte, die ich aber auf uns zukommen sehe?

An unserer Alltagskultur nagt schon länger etwas Schädliches. Was ich meine, wird deutlich, wenn Sie meiner Einladung zu einem kleinen Gedankenexperiment folgen. Versetzen wir uns also in den aus jahrelanger Erfahrung sattsam bekannten Alltag unseres Landes.

Wünschen Sie sich bitte etwas aus der Liste hiesiger Engpässe, und reihen Sie sich ein in die schon vorhandene Warteschlange. Mit dem Warten müssen Sie nun geraume Zeit verbringen. Sicher ist nicht: Wird das Erhoffte bis zu Ihnen reichen? Gerade der Kunde vor Ihnen kann der sein, der vom Ersehnten und Raren das Letzte bekommt.

Stellen Sie sich bitte nun selbst die folgenden Fragen: Ist Ihr Verhältnis zu denen, die vor Ihnen in der Reihe stehen, dasselbe, wie das zu denen hinter Ihnen? Und wenn Sie da einen Unterschied bemerken: Worin besteht er? Und: Wie oft kann man so etwas mitmachen, ohne daß es die Mentalität verformt?

Der Wind, der die ungeschützte Ackerkrume davonträgt, macht den Boden unmerklich und doch stetig unfruchtbar. Erosion nennt die Wissenschaft diesen Vorgang.

In solcher Bedrückung ist Zusammenbruch Aufbruch, und Aufbruch ist Befreiung, Endlich? So viele ungute Zeichen. Wir sahen sie doch und benannten sie auch! Mein Unmut hat sich gesammelt in Hirnwindungen und Schubladen. Mein Ruf nach Umkehr war Flüstern statt Schreien. Was aber taten die vielen Selbstgerechten, die jetzt auf den Straßen wie einst auf Fußballplätzen sich so intolerant produzieren, jetzt, wo sie im Vakuum der Macht kein Risiko mehr eingehen?

Die Willkür der Mächtigen hat eine bestürzende Kehrseite: die Ohnmacht der vielen Staatsbürger. Die Schranke ist nun durchbrochen, aber eine Ohnmacht, die so lange gelebt wurde, muß zwangsläufig ihre Spuren hinterlassen im Alltagsverhalten. Bedenklich ist ja schon die Maxime "Wie Du mir, so ich Dir!" Gelebte Ohnmacht aber handelt sogar nach der Devise "Wie Du mir, so ich dem Nächstbesten!"

Was zum Beispiel mag jenen Busfahrer bewegt haben, der nachts um drei vorm Bahnhof stand, wartend auf seine fahrplanmäßige Abfahrtszeit? Als die endlich heran war, fuhr auch der verspätete D-Zug ein. Die mit ihm kamen, sahen den Bus und begannen ihren Sprint. Unser Busfahrer ließ sie auch herankommen, doch bevor die ersten am Ziel waren, schloß er die Türen und fuhr ab, fahrplanmäßig.

In welcher Geistesverfassung handelt jemand, der gedeckt durch die Vorschrift, seine kleine Macht genießt? Wahrscheinlich sucht er Genugtuung. Aber wofür? Möglicherweise reagiert er auf ein Sommersonntagserlebnis, das dem meinen sehr ähnlich ist. Lange mußte er also warten in der Schlange - schon wieder eine Schlange, diesmal vorm Eisladen. Sein vorfreudiges Appetitsgefühl und die begierige Erwartung seiner Kinder wuchsen in der prallen Nachmittagssonne, die zu unserem Beispiel gehört. Als sich unser Held der Luke schon ziemlich genaht hatte, verkündete die Verkäuferin unerwartet, doch unwiderruflich: Ladenschluß! Einmal ist eben Feierabend, und zu Hause wurde sie sicher auch schon sehnlich erwartet, unsere Sonntagsarbeiterin. Aber diejenigen, die absehbar nichts mehr bekommen würden, hätte sie doch rechtzeitig informieren können. Warum nur hat sie diese Kleinigkeit unterlassen? Den Ärger, den sie fahrlässig verursachte, streuen die vielen Betroffenen oft weit ins Land.

Viel böser Unmut wird hervorgerufen durch Gedankenlosigkeit, durch Mangel an Einfühlung in die Folgen eigenen Handelns. Und die Opfer solcher ungezielten Willkür? Sie werden zu Mittätern, wo sie sich zu Eigen machen dieses unselige "Wie Du mir, so ich dem Nächstbesten, der mir über den Weg läuft!"

Das Volk der DDR hat Politiker abgeschüttelt, die mangelkranke Zustände gesund beten ließen, um sich selbst daran gesund stoßen zu können. Jetzt stellen viele mit bitterem Staunen fest, wie kreatürlich klein und nichtig viele der einst so mächtigen Persönlichkeiten sind. Vor dieser oder dem haben wir gezittert und gekuscht? Dafür schämen wir uns jetzt. Scham macht wütend. Wohin mit dieser Wut?

Wollen wir unsere Vergangenheit endlich einmal richtig bewältigen, dürfen wir den unbequemen Konsequenzen nicht ausweichen, die das eigene Leben betreffen. Die Obrigkeiten sind verantwortlich für den Zustand ihres Volkes. Sie repräsentieren die Verfassung eines Volkes, was auch heißt: Sie sind von der Gesellschaft getragen, solange die trägt. Die Probleme oben finden ihre Entsprechung unten. Zu ändern ist beides, wenn sich die Zustände gründlich ändern sollen.

Was unter uns so viel Stalinismus möglich gemacht hat, hat ja auch zu tun mit der ungenügenden Bewältigung des Faschismus. Das ist nachzuholen. Unsere Alltagskultur haben wir immun zu machen gegen beide, gegen den Faschismus, wie gegen den Stalinismus. Versäumen wir das jetzt, könnten in größerer sozialökonomischer Bedrängnis allzu viele allzu leicht bereit sein, sich ihren Juden oder sonstigen Sündenbock zeigen zu lassen. Das eigene Abreagieren am Fremden, diese Erniedrigung des Anderen, scheint dem Täter das Bewußtsein eigener Größe und Sicherheit zu geben.

Die Erfahrungen unserer Geschichte dürfen nicht umsonst gewesen sein. Und so hoffe ich, daß sich diejenigen behaupten werden, die entschieden das Menschenrecht verteidigen, auch das Menschenrecht der Schwachen und Schutzlosen, auch wenn diese nicht frei sind von Schuld. Wer ist schon frei von jeglicher Schuld? Nur der hat überhaupt das moralische Recht zu erwägen, ob er den ersten Stein werfe.

Die Schuld ist ungleich verteilt, und sie ist gerecht abzutragen. Aber die Opferung eines Sündenbockes, des Repräsentanten der Mißlichkeit, enthält ein gefährliches Stück Selbstbetrug. Sie ist Scheinbefreiung. Sie macht es zu leicht, zur gewohnten Tagesordnung zurückzukehren. Selbstbetrug kann der Samen sein für neues Unheil.

Gerade solche Überlegungen, die für uns unbequem sind, müssen angestellt werden, wenn wir aus der tiefen Krise erneuert, geläutert herausgehen wollen, um so aus dem Jahr 1990 ein gutes Jahr zu machen.


Quelle: J. Nehru: Briefe an Indira. Weltgeschichtliche Betrachtungen, Düsseldorf 1958, S. 43.Weiter im Text!

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