Massen und Medien

ich möchte Sie in dieser sonntäglichen Mittagsstunde einladen, mit mir hineinzuhorchen in das Wort Massenmedium.

Der Rundfunk, der eben auch meine Worte in großes Rund funkt, wird als Massenmedium benannt, weil er eine große Menge Menschen erreicht und weil eine große Menge Menschen "Masse" geheißen wird. In der Zusammenballung ist tatsächlich die Einzelheit, die Individualität aufgehoben. Unter dem Druck der Versammlung verliert der Einzelne seine Selbstbestimmung und verhält sich massenhaft. Der Einzelne und die Masse, deren Element der Einzelne sein kann, sind zwei verschiedene Wesen mit verschiedener Verhaltensdynamik. Wir erkennen den höflich zurückhaltenden, etwas verklemmten Jungen aus der Nachbarschaft kaum wieder, wenn er - getragen vom wütenden Fanatismus - als Element einer Masse agiert. Und über allem weht stolz die Fahne irgendeines Vereins, die Seele des Haufens.

Woher kommen die Massen und wohin gehen sie? Die Massenhaftigkeit kam in die Menschenwelt mit dem Industrialismus. Maschinerie und Welthandel sind undenkbar ohne Standardisierung, ohne Passfähigkeit der Teile, der Teile eines immer verzweigteren und immer weniger zu überblickenden, allgegenwärtigen Mechanismus, dessen Elemente nichts weiter zu tun haben als zu "funktionieren". In den wachsenden Fabriken und Büros wurden die Menschen austauschbar. In städtischen Siedlungen drängten sie sich mehr und mehr zusammen. Es entstand auch die Massenkultur: Wo immer du auch hinkommen magst - die großen Gleichmacher: Coca-cola und McDonald werden schon allhier sein.

Über die Grundtendenzen dieser Entwicklung muß an anderer Stelle gesprochen werden. Sie sind zu widerspruchsvoll für diese kurze Wortmeldung. Ich möchte vielmehr bei einer Erstaunlichkeit in der Geschichte des Phänomens Masse verweilen. Vom Industriekapitalismus hervorgebracht, ist die Masse zum Fetisch, zum Gegenstand der Anbetung erst geworden mit dem proletarisch gemeinten Sozialismus und der Karikatur dieser Karikatur, dem faschistischen Nationalsozialismus.

Vermassung ist Vorherrschaft des Durchschnitts, ist Einebnung der Unterschiede, ist Gleichrichtung der Bewegungen, Verlust der Selbstbestimmung und der kritischen Distanz zum eigenen Dasein. Es triumphiert der Mechanismus (das System), und seine höchste Persönlichkeit (der Generalsekretär) ist nicht viel mehr als sein oberster Untertan.

Ein Wandel in diesem verhängnisvollen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist auch in der alten DDR als Reformfeld erkannt worden. Doch von tatsächlicher Reformfähigkeit trennte uns zu vieles - nicht zuletzt die eigene Naivität und Befangenheit.

Entgegen anders lautenden Legenden war der Aufbruch vom Herbst 1989 geistig kaum vorbereitet. Die DDR hatte kaum ein Organ fürs Neue (Organ fürs Neue - das ist bei Ernst Bloch ein anderer Ausdruck für Utopie). Eine öffentliche Kontroverse, in der die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kritisch hätten aufgearbeitet werden müssen, konnte dem Aufbruch nur ansatzweise vorausgehen. So nimmt es auch nicht Wunder, daß wir kaum weiter zielten und politisch gewiß auch nicht weiter gesprungen sind, als bis in jene parlamentarische Vertretungsdemokratie, von der Robert Jungk einmal sagte, daß sie "Demokratie für Analphabeten" sei: Wir Wähler geben in größeren Zeitabständen unsere Stimme ab, was meint: Wir machen ein paar Kreuze. Mit dem Rest haben wir nicht mehr viel zu schaffen. Und was sich da im Scheinwerferlicht produziert, ist auch längst nicht so bedeutsam, wie es glauben machen will. Die Parlamentsabstimmungen bestätigen immer wieder den Proporz der Fraktionen. "Wechselnde Mehrheiten", die ja unvermeidlich sein müßten, wo denkende Individuen agieren, gelten im Verständnis unserer Bonner Lehrmeister als Sakrileg, als Zeichen von Krise und Zerrüttung, von Instabilität und Notstand.

Wir konnten wohl nicht weiter springen. Für die meisten von uns ging es nur darum, so leicht als möglich vermeintlich sicheres Ufer zu erreichen. Für längeren Anlauf war auch kein Hinterland.

Nun fällt die DDR von uns ab wie eine alte Hülle. Dieses Wort von der alten Hülle sprach St. Exepurys kleiner Prinz als er sich aufgemacht hatte, sein Erdendasein zu beenden, um zu seinem verlassenen Heimatplaneten und zu seiner geliebten Blume zurückzukehren. Eine Schlange hatte ihm versprochen, ihm dabei hilfreich zu sein. Was geschehen sollte, erklärte der kleine Prinz seinem irdischen Freund in diesen Worten: Du verstehst. Es ist zu weit. Ich kann diesen Leib da nicht mitnehmen. Er ist zu schwer. Aber er wird daliegen wie eine alte verlassene Hülle. Man soll nicht traurig sein um solche alten Hüllen.

Unser Ablösungsprozeß von der alten Hülle ist begleitet von Peinlichkeiten, und manch einer scheut die Begegnung mit alten Bekannten, die ihn schon in anderer Pose sahen. Wer sich heute einreiht unter die Aktiven, die Flexiblen, die Macher, provoziert immer die Frage: Was hast du gestern noch gesagt und getan?

Wir, die wir vorm Oktober 89 nicht eben Helden des Widerstands waren (wozu sich jetzt manche ungeniert hochstilisieren), wir können jetzt wohl kaum eine besonders gute Figur abgeben. So entstehen viele Situationen, in denen wir leicht die Achtung voreinander verlieren (können). Ich jedenfalls habe so meine Schwierigkeiten, wenn ein kommandierender Zolloffizier von der tschechischen Grenze, der bis vor Kurzem noch Wert auf die Anrede Genosse legte, nun stolz spricht von seinem Auftrag, die EG-Außengrenze zu schützen. Ein anderes Getriebe sucht und findet seine paßfähigen Rädchen.

Damit sind wir wieder beim Mechanismus, bei der Masse. Es fällt uns schwer, aufzuhören, Masse zu sein, Masse, die sich ausrichtet an Autoritäten, an den Autoritäten der Richtlinien und des herrschenden Geschmacks, von dem es nur noch ein kleiner Schritt ist zum gesunden Volksempfinden.

Ist der Anpassungsdruck, unter dem wir uns drehen und wenden, hier hilfreich und heilsam? Er beseitigt ja nicht unsere moralisch-ethischen Defizite.

Die Überanpassung, zu der unsere Schwierigkeiten mit unserer Identität verführen, ist kein Zeichen von demokratischen Tugenden. Was anderes als Erfüllungsjournalismus kann ich erwarten von Leuten, die sich ins Statut schreiben, ihre Zeitung sei (ich zitiere) der in der jeweils gültigen Verfassung festgelegten rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung verpflichtet?Quelle!

Wenn Radio ein Medium, also ein Mittel ist, so könnte eine seiner aktuellsten Bestimmungen sein, ein Stück Identitätsfindung und Willensbildung eines Volkes zu vermitteln, in dessen Lebenszusammenhängen die gewohnte Berechenbarkeit fast über Nacht abhanden gekommen ist. Selbstfindung statt Massenpsychose - hier findet Radio ein weites Betätigungsfeld, denn es ist eben kein Massenmedium.

Sie, meine lieben Hörerinnen und Hörer, müssen sich nicht auf Straßen und Plätzen versammeln, um dieser Rede zu lauschen. Die Erfahrungen dieser interessanten Zeit machen freilich vorsichtig, so daß ich besser sagen möchte: noch nicht.

 

[Folgender Absatz stand an dieser Stelle des Manuskripts, wurde aber - in Absprache mit der Redakteurin, Frau Rosemarie Radtke - bei der Ausstrahlung weggelassen, da diese alte Wunde in Verbindung mit einem verdienstvollen Übergangsintendanten nicht neu aufgerissen werden sollte.]

Wer hätte auch für möglich gehalten, daß ein DDR-Sender, der einst fast aussichtslos mit RIAS II konkurrierte, einmal Massen zu seiner Verteidigung mobilisieren könnte? Aber wer hätte auch gedacht, daß einmal ein Sendernetz der Deutschen Post dem Rundfunk im amerikanischen Sektor zufallen könnte? Dieser Piratenakt ist ja durchaus nicht so einmalig. Einmalig ist der Vorgang trotzdem, weil er sich in größter Öffentlichkeit vollzog. Es scheint, wir haben in dieser Sache an demokratischem Selbstbewußtsein gewonnen. Danke, Herr Singelstein!

Im Allgemeinen ist Radio adressiert an Individuen, nicht an Massen. Mit Ihrer Erlaubnis treten meine Worte ein in Küchen, Stuben und vielleicht gar Schlafzimmer? In dieser seiner Intimität ist das Medium Funk auch geheimnisvoll. Sprecher und Hörer können einander sehr nahe kommen und bleiben einander trotzdem verborgen, unsichtbar. Im Augenblick der Sendung ist nicht einmal gewiß, ob sie überhaupt gehört wird, und wenn, von wem. Ungewiß ist, ob sie überhaupt eine Wirkung macht. Der Sprecher kann seine Hörer nur ahnen. Und umgekehrt: Meine Hörer erfahren von mir nicht mehr, als meine Stimme zu ihnen trägt. Das ist kein Nachteil. Es kann mir nicht ergehen, wie jenem Musikpädagogen, der einmal folgenden Dialog erzählte:

Ich habe Sie neulich im Fernsehen gesehen.

So? was habe ich denn gesagt?

Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber Sie hatten einen roten Pullover an und sahen irgendwie abgespannt aus.

So hatte das Fernsehen, indem es den Sprecher sichtbar machte, den Sinn seiner Worte verstellt. Na gut, im Radio kann das so nicht geschehen.

Ich wünsche Ihnen noch einen guten Sonntag.


Aus dem Statut der Zeitung "Freies Wort". s. Spiegel, H.32/1990, S. 182 Rubrik HohlspiegelZurück zum Text!

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