Sieben Vorspiele zu einem Nachruf

 

VI

Jeder heizt sein Mythchen.

Es hätte doch anders kommen können! Eine Partei um Robert Havemann zum Beispiel.

Es gab viele Arten, das Land zu verlassen. Eine kommunistische Opposition zur SED wurde stets auf das zurückgeworfen, was sie nur sein konnte: eine anständige Art zu gehen.

Es gab viele Arten zu bleiben.

Sobald Intellektuelle mit der Wirklichkeit ihre eigene Ohnmacht wahrnehmen, stellt sich Selbstekel ein. Das dürfte eine globale Einschätzung sein. Unter der proletarisch-sozialistischen Brille galt Selbstreflexion als Krisenluxus des parasitären Spätkapitalismus. In dieser Hinsicht war die DDR immer ganz völkisch. Bücher - als erstes wohl "Nachdenken über Christa T." - haben hier am Stein gehöhlt. Immer wieder kommen wir auf Christa Wolf zurück.

Dem Namen Robert Havemann muß jeder in der DDR begegnet sein, der geistig rege war. Die dazugehörigen Schriften kannte man höchstens aus dem Hören-Sagen. Die "Giftschränke" der wissenschaftlichen Bibliotheken haben wirksam immunisiert. Wer "bürgerliche" Literatur einsehen durfte, hatte schon eine Vertrauensstellung. Vertrauen dankt man. Um Lew Trotzki, Wolfgang Leonhard, Robert Havemann oder gar Rudolf Bahro lesen zu dürfen, mußte sich jemand sehr viel Vertrauen verdient haben.

Schließlich endlich standen Havemanns historische Deutungen des Prager Frühlings sogar in der Zeitung, deren Name uns täglich ein neues Deutschland verhieß. Zwanzig Jahre hat das "ND" dazu gebraucht, und nichts hatte es getan, die gewollt zu verkürzen.

Den 21. August 1968 habe ich als 14-jähriger erlebt in meinem Elternhaus nahe der tschechischen Grenze. Meine Mutter hatte mich mit den Worten geweckt, "Es ist Krieg!"

Den ganzen langen Vormittag fesselte mich das Radio. Auf dem Prager Sender stundenlang nur das Pausenzeichen, Smetanas Harvenmotiv aus "Mein Vaterland"; im Hintergrund hörbar die Panzer, die die Vinohradska besetzten. Die lokalen Stationen unterbrachen ihre Sendefolge mit mehrsprachigen Hilferufen an alle.

Mit den Ohren hatte ich einer Vergewaltigung beigewohnt. Das fühlte ich.

In der Nähe meiner Schule hatten Unbekannte ein Hakenkreuz in den August-heißen Straßenteer gezeichnet. Darauf bezog sich unser Direktor, als er beim Fahnenappell zur Schuljahreseröffnung sprach:

Solche Schmierfinken werden wir unter uns nicht dulden! Es war das entscheidende Schuljahr für meine Zulassung zur Abiturstufe. Ich verhielt mich erwartungsgemäß.

Meine Welt kam wieder in Ordnung. In der Zeitschrift "Funkamateur" fand ich die rettende Nachhilfe. Bundeswehrsender des Nachrichtenbataillons 801 waren zum Einsatz gekommen, hieß es dort, die ein Untergrundprogramm "mitten aus dem Böhmerwald" simuliert hätten.

Nichts ist unmöglich!

Jahre später traf ich eine Redakteurin der deutschsprachigen Sendungen von Radio Prag. Ich fragte sie nach dem Untergrundprogramm, das ich ja immerhin gehört hatte. Sie muß mir vertraut haben, als sie antwortete: Wäre ich damals nicht im Urlaub gewesen, säße auch ich jetzt nicht mehr hier. Also doch?

Ein gut gebautes Weltbild war so leicht nicht mehr zu erschüttern.

Die delikaten parteiinternen Reden von Vasil Bilak waren im Dietz Verlag erschienen. Imponierend, wie der Genosse den verkalkten Diktator Novotny abgefertigt hat! Und Bilak war im Frühling 68 mutig gegen den liberalen Strom geschwommen. Die Konterrevolution beginnt nicht mit dem Erschießen!, lehrte er und war doch Stalinist. Das Gesetz der Eskalation - mir wißbegierigem Studenten leuchtete das ein.

Beispiele feindseliger Intoleranz gegenüber von Familienangehörigen manch eines Genossen "Moskauer Schule" sind ja belegt. Und ist sie nicht wirklich, diese blutige Spur der Gegenrevolution vom deutschen Bauernkrieg bis zur amerikanischen Indochinaaggression?

Nur, wo war Revolution, wo war Konterrevolution? "Lechts und rinks kann man nicht verwechserln." Im Nationalstadion von Santiago de Chile wurde Victor Jara mit tausenden anderer Genossen erschlagen.

Ja, die Machtfrage. "Wer wen?" und überhaupt: die dritte Welt.

Dort zeigte sich doch: wir standen auf der Seite der Schwachen?

Wer wen? - das ist das Verhängnis des 20. Jahrhunderts, das ist das Spiel mit den mehrfach vertauschten, vielfach gebrochenen und vorgetäuschten Rollen.

Rollen verstellen den Blick. Wenn ich mich damit entschuldige, muß ich konsequenterweise auch die eigene Unmündigkeit eingestehen.

Die ganze Geschichte muß noch einmal durch unsere Köpfe hindurch, wenn sie bewältigt werden soll. Das wird kaum gesamtdeutsches Interesse binden. Die DDR hat ihren spezifischen Tunnelblick erzeugt. Es bedeutete immer zu wenig und ist jetzt ganz bedeutungslos, daß die Wände des Tunnels in den 80er Jahren mehr und mehr auseinandergerückt sind.

 

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© by Juergen Trinkus 1990