Das Kätzchen und die Menschlichkeit

Ich finde es spannend und aufregend, mit einem Computer Umgang zu pflegen. Auf eine andere Weise ebenso anregend und auch lehrreich ist es für mich, unser junges Kätzchen bei seinem spielerischen Treiben zu beobachten.

In einer Pfütze entdeckt das Kätzchn plötzlich sein Ebenbild und weiß sich solches nicht zu deuten. Ein Tatzenhieb soll hier Klarheit schaffen, doch erweist er sich als der berüchtigte "Schlag ins Wasser". Warum? Wieso?

Das Tier weiß nicht so zu fragen und wendet sich also aussichtsreicheren Dingen zu. Es folgt den Gesetzen seiner Natur. Es sucht den Erfolg im Rahmen der Muster, die es ererbt hat, von denen es freilich nichts weiß, von denen es kaum abweichen wird.

Vermutlich sind wir Menschen die einzigen Lebewesen, die sich selbst zuschauen können, die sich gewissermaßen verdoppeln. In unser Sein greift ein unser Bewußtsein. Dank dieser Doppelung kann ich mich selbst beobachten. Ich kann mich selbst bewerten, zensieren gar, weil und indem ich mich spiegele in Aktion und Reaktion der Anderen, der Welt, die mich umgibt.

Ungefähr mit drei Lebensjahren erreicht das Menschenkind eine Entwicklungshöhe, auf der es "Ich" zu sagen lernt. Damit gewinnt es ein Bild von sich selbst. Die Dinge und Personen, von denen es umgeben ist, benutzt es dabei als Spiegel. Schritt für Schritt lernt es nun, das eigene Handeln zu beherrschen, es im Wechselspiel mit seiner Umgebung zu entwickeln. Das Menschenkind lernt, den eigenen Wünschen Namen zu geben, Mittel und Wege herauszufinden, über die sie (vielleicht) verwirklicht werden können. Der Wirklichkeit, wie sie ist, wird so die Möglichkeit, der Entwurf gegenüber gestellt. Aus dem, was war und was ist, wird gedanklich entwickelt, was sein kann und soll.

Auf Marx geht das berühmte Gleichnis von der Biene und dem Baumeister zurück. Selbst wenn es sich bei diesem Baumeister um den schlechtesten seiner Zunft handelt - seine windschiefen Bauten mögen jeder Beschreibung spotten; trotzdem hat er der besten Arbeitsbiene eines voraus: Auch wenn sie Waben in solcher Präzision und Qualität baut, daß sie den Menschen beinahe beschämt. Er, der Mensch, folgt nicht einfach einem vorgegebenen Verhaltensmuster. Ein solches gibt es für den Hausbau gar nicht. Was ihn von den besten tierischen Baumeistern abhebt, ist die Tatsache, daß er seine Tätigkeit geistig vorweg nimmt. Er geht zielgerichtet ans Werk, in dem Sinne, daß er im Kopf zunächst einen Entwurf, mindestens aber eine Vorstellung von dem hat, was schließlich herauskommen soll.

Ist das ERGEBNIS enttäuschend, kann der Mensch Fragen stellen. "Woran liegt es, daß meine Arbeit so daneben gehen konnte?" Er vergleicht seinen ursprünglichen Entwurf mit dem Ergebnis und hat nun zwei Möglichkeiten. Die Erste: Alles einer strengsten Prüfung unterziehen, die Schwachpunkte und Fehler herausfinden, um sie zu korrigieren. Die zweite Möglichkeit: Die Ansprüche herunterschrauben auf die windschiefe Realität. Darf das eine Möglichkeit sein?

"Niemand und nichts kann uns zu Fall bringen, außer unsere eigenen Fehler", sagt Lenin. Hat er da vielleicht nicht ein wenig überzogen? Wie auch immer, die eigenen Fehler sind im Gesamtkalkül doch immer diejenigen Punkte, die ich am ehesten beeinflussen kann. Lenin lenkte den Blick seiner Genossen also genau auf diejenigen Punkte, die sie selbst zu verantworten haben.

Verantwortung. Da haben wir ein weiteres Moment der Menschlichkeit, wovon mein Kätzchen nichts weiß, obwohl es unbewußt auf dieses, mein Empfinden baut, seit ich es mir "vertraut gemacht" habe. Verantwortung tragen und ihr gerecht werden ist ja durchaus nicht dasselbe. Um verantwortungsbewußt zu handeln, brauche ich eine Zielvorstellung, an der ich mein Tun und Lassen messe, orientiere. Hier schließt sich der Kreis. Tätigkeit heißt Arbeit, wo sie zielgerichtet ist. Zielbewußtheit schafft Verantwortungsgefühl. Dieses ist also der Arbeit immanent. Wo Arbeitsteilung aber dahin führt, daß ich nur noch Zielvorstellungen anderer ausführe, die ich geistig nicht mehr nachvollziehe, geht die Basis verloren, auf der allein Verantwortungsbewußtsein denkbar ist. Irgendwie werde ich der Arbeitsbiene ähnlicher, ohne ihre Wunder vollbringen zu können.

Was wir wollen, welche Ansprüche wir an uns und andere stellen, wird sehr weitgehend von der Gesellschaft bestimmt, in der wir leben. Unsere Wünsche und Vorstellungen sind Teil des Bewußtseins, das diese Gesellschaft von sich hat. Eine Gesellschaft erfüllt die elementarsten Erfordernisse der Menschlichkeit, wenn sie ihren Individuen Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung, gesundheitliche Betreuung und Gerechtigkeit sichert, ohne daß sie zu Räubern werden müssen. Sozialismus - das ist auch die Einlösung dieser Ansprüche. Die Mündung dieser Ansprüche ist nicht die Sattheit. Das Schlaraffenland ist ein zu kurz greifender Traum, denn es reduziert den Menschen auf seinen Bauch.

Welche Bedürfnisse eine Gesellschaft befriedigt und mit welchen Mitteln sie das tut, daran sollt ihr sie messen. Die andere Seite der Medaille ist: Welche Bedürfnisse produziert sie, und wie tut sie das? Die aufsteigende Linie der Menschheitsgeschichte ergibt sich daraus, daß immer wieder Menschen auftraten, die die Welt nicht hinnahmen, wie sie war. Was sie ihr entgegen setzten, war Perspektive. Ziele müssen realitätsbezogen bleiben, aber auch weit tragend. Je weiter die Ziele gespannt sind, um so größer sind die Mühen bei ihrer Erreichung; um so würziger ist aber auch der Genuß, den jeder Schritt bereiten kann, der dem Ziel näher bringt. Ich denke an das Vergnügen des Sportlers, der sich für tagtäglich Schweiß treibende Anstrengung entschieden hat, um den Horizont des eigenen Leistungsvermögens immer weiter hinauszuschieben. Ich denke an das tiefe Vergnügen des Künstlers, der sich selbst bis zur Erschöpfung fordert, um dem Unerhörten, was seinen Kopf bewohnt, eine gültige Gestalt zu geben. Ich denke auch an das erhabene Vergnügen der Forstleute, deren Pflanzung die Spanne eines Menschenlebens überschreiten kann. Im Setzling sehen sie schon den Baum, der sie überdauern wird. Überall begegnet uns die ideelle Vorwegnahme im Noch-nicht. Uns treibt, was noch nicht ist.

Jede Generation sucht nach ihrem eigenen Ansatzpunkt. Bevor sie der Wirklichkeit ihren Entwurf entgegenstellen kann, muß sie ihr Ungenügen an der Wirklichkeit definieren können. Auch am Ausgangspunkt der Lehre von der Befreiung der Arbeiterklasse war solches Ungenügen. Aus ihm heraus formulierte der junge Marx einen kategorischen Imperativ, der einen universalen Anspruch begründet, noch immer. "... Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Mit dem Ungenügen nimmt jeder ideelle Fortschritt seinen Anfang. Zunächst muß es sich manifestieren. Dann provoziert es auch die Frage: Unzufriedener, wie würdest Du es machen? - Und nun kann sich der Entwurf ausformen, indem die Hoffnung der Unzufriedenen Gestalt annimmt. Gemeint ist nicht die Hoffnung auf einen Erlöser, der es für uns schon besorgen wird. Gemeint ist die Hoffnung, in der Würde, Verantwortung und die Gewißheit stecken, daß auch ein Weg ist, solange da noch Sucher sind.

Ein geflügeltes Wort sagt: "Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es!" Es ist mehr als legitim, das Gute zu kritisieren, nämlich aus der Position des Besseren. Liebe Hörerinnen und Hörer, machen Sie's gut, nein, halt: Machen Sie's besser.


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