Gedanken zum Totensonntag

Zur ganzen Wahrheit des Lebens, liebe Hörerinnen und Hörer, gehört auch die Vergänglichkeit. Wahrscheinlich ist sie das Stück der Lebenswahrheit, mit dem umzugehen, wir am wenigsten befähigt und bereit sind. Unwiederruflicher Abschied gehört nicht zu den erfreulichen Momenten des Lebens.

Sicher haben auch schon einige Hörer beschlossen, diesen Redner abzuschalten. "Alles zu seiner Zeit", werden sie sagen. - Das ist unbedingt richtig, aber doch auch unzulänglich. Die Verdrängung der Vergänglichkeit aus unserem Bewußtsein macht uns hilflos im Umgang mit dem Tode, dem eigenen, wie dem der anderen.

Menschlichkeit hat sich zu bewähren in allen Phasen und Situationen des Lebens. Tut sie das auch? Die Antwort darauf hat viel zu tun damit, wie unsere Zivilisation eingerichtet ist, wie sie organisiert ist in Hinblick auf die grundlegenden Lebenszusammenhänge. Krankheit, Alter und Tod sind recht weitgehend delegiert in Einrichtungen mit Sonderfunktionen. Kinder kommen normalerweise kaum in Berührung mit beschädigtem und vergehendem Leben. Es wird von ihnen ferngehalten. Das ist gut so? Ich bin da nicht mehr ganz so sicher. Letztlich bleibt die Begegnung keinem erspart. Die Frage ist nur: Wie sind wir vorbereitet? Das Ausgegrenzte, Fremdgemachte schockiert und überfordert uns wahrscheinlich, wenn es uns dann doch zu nahe tritt.

Unsere ganze Kultur basiert auf Naturzusammenhängen. Wo unsere gesellschaftlichen Einrichtungen diesem Unterbau nicht mehr gerecht werden, können sie nicht aufgehen. Menschenleben ist in seinem natürlichen Lauf zyklisch. Jedes Einzelleben ist verwoben mit vielen anderen neben, aber auch vor und nach ihm. Wir werden geboren, wachsen, reifen, altern, vergehen. Im eigenen Zenit stehend, bringen wir neues Leben auf den Weg. Wenn wir dann selbst altern, bedürfen wir der Zuwendung derer, die nach uns kommen. So greift ein Leben ins andere.

Allerdings, es scheint mir an der Zeit zu fragen, ob wir kulturell diesem Naturzusammenhang gewachsen sind, solange wir die Hinfälligkeit des Lebens verstecken - vor uns selbst und vor den Anderen. Wo Geburt und Tod in Kliniken stattfinden, abgetrennt vom Normalgetriebe der Gesellschaft, sind wesentliche Lebenszusammenhänge nicht mehr sinnfällig. Es gibt gute Gründe dafür. Ebenso gute Gründe gibt es, die Situation zu hinterfragen.

In meinem Gedächtnis stehen Begegnungen mit Bewohnern von Alterspflegeheimen, die seelische Verlassenheit signalisierten, indem sie Sehnsucht nach dem Tod aussprachen. Etwas Wesentliches im Leben dieser Menschen geht nicht auf, vollendet sich nicht im Guten, im Frieden mit sich und der Welt.

Geborgenheit vermag nur eine solidarische Gesellschaft zu geben. Für diese Menschlichkeit braucht sie materielle Voraussetzungen, ebenso jedoch ein Gesicht, persönlichen Charakter. Vergesellschaftung, die nicht zugleich auch Individualisierung ist, kann gar keine wirkliche Vergesellschaftung sein, sondern allerhöchstens Vermassung. Ich sage das in aller Deutlichkeit, eben weil ich Marxist bin und nicht, obwohl ich es bin.

Die Vergänglichkeit bringt, wo sie uns berührt, Schmerz und Trauer zum Klingen. Unser Lebenswille sträubt sich dagegen. Ganz klar, die Freude über die Entstehung von etwas Neuem, die Freude über das Werden neuen Menschenlebens scheint sich angenehmer zu machen ohne Gegenwärtigkeit ihres Kontrastes, der negierenden Seite des Lebens. Wie aber sollte sich herandrängendes, nachwachsendes Leben verwirklichen, wenn da keine Räume frei würden, auf die es einen Anspruch anmelden kann?

Unser Lebensinhalt entfaltet sich, indem wir uns nützlich machen, uns einbringen. In den verschiedenen Abschnitten unseres Wirkens bedeutet das durchaus sehr Verschiedenes. Auch darauf ist unsere Gesellschaft noch nicht optimal hinentwickelt. Die Kindheit, der Morgen des Lebens auf der einen Seite, und das Alter, also sein Abend auf der anderen Seite, scheinen mir allzu abgetrennte Segmente des Gesellschaftsganzen zu sein. Jugend und Alter machen sich auf verschiedene Weise nützlich. Wo sie so zusammenwirken, daß sie eine tätige Balance, eine Art Fließgleichgewicht finden, dort scheint mir Gesellschaft in einer wesentlichen Hinsicht gut eingerichtet zu sein.

Neues auf den Weg zu bringen, zu gebären, zu stillen - einen Hunger, eine Sehnsucht zu stillen -, Wachsendes zu nähren, zu kleiden, vor unmittelbarer Gefahr zu schützen, es zu bilden, ihm das Laufen zu lehren, es fähig zu machen, sich von uns zu lösen - das alles gehört zum Leben.

Von seiner natürlichen Seite her gesehen, so sagte ich, ist menschliches Leben ein Zyklus zwischen Leben und Tod. Der Mensch ist allerdings ein Natur- und ein Kulturwesen. Das Kulturwesen in uns durchbricht den naturhaften Kreisgang. Jede Generation fügt etwas hinzu, was vorher nicht da war, aber nach ihr bedeutsam bleibt. Jeder von uns behauptet sich in dieser unendlichen Reihe - schon dadurch, daß er seinen Nachkommen Geschichten erzählt, ihnen Haltungen vorlebt, Erinnerbares hinterläßt. Für das, wofür wir Verantwortung übernommen haben, machen wir uns entbehrlich. So arbeiten wir auf Abschied hin. Manch einen erschreckt solche Aussicht, meint er doch, sich so der Vergessenheit entgegenzuarbeiten. Er muß sich aber fragen lassen, wie weit denn ein Denkmal trägt, das sich einer setzen will, indem er sich an einen Platz klammert, auf den längst Nachwachsende einen Anspruch haben, die sich beweisen wollen, ehe sie dafür zu alt geworden sind. Unsere Bestimmung ist es, Leben zu befördern, nicht, es zu verbauen, wie das leider geschehen ist, solange verantwortliche Politiker meines Landes, meiner Partei selbst bestimmten, wie lange sie der führenden Position unersetzlich gewachsen seien. Dabei war übrigens Angst im Spiel, Angst vor Jenseitigem. Das Jenseitige meine ich hier durchaus sehr irdisch. Was erwartete den hohen Mann jenseits seiner Macht? Wie wurde bislang bei uns derjenige behandelt, der aus einem oberen Rang der politischen Hierarchie herabsteigt, weil er will oder muß? In der Zeit seiner Macht wurde ihm höfisch zum Munde geredet. Schwachstellen, Defizite, unangenehme Wahrheiten wurden ihm süß verpackt und kollektiv verdrängt. Ist der große Mann abgetreten, bricht das Verdrängte hervor. Wie vordem alles Gute, wird ihm nun alles Schlechte zugeschrieben. Die viel besprochenen Privilegien erklären das Sichklammern an Funktionen meines Erachtens kaum hinreichend, ohne diese verständliche Angst vor der öffentlichen Demontage der vorher überhöhten und nun erniedrigten Persönlichkeit. Diese Angst werden wir nur bannen, wenn die frühzeitige Übergabe der Verantwortung an Nachwachsende, ein Zurücktreten aus Verantwortung in unserem politischen Leben zur Normalität wird. Auch auf dieser Strecke müssen wir lernen, souverän umzugehen mit der Vergänglichkeit.

Wir haben uns übrigens auch abzugewöhnen, das Altern einseitig als Abnahme der Möglichkeiten zu denken und zu leben. Jedes Stadium unseres Lebens will angenommen werden mit seinen Grenzen. Aber das Schema können wir durchbrechen, wenn wir jede neue Situation vor allem befragen nach den Möglichkeiten, die ihr eigen sind. Unser Leben greift selbst über den Tod hinaus. Es setzt sich fort im Denken und Handeln derer nach uns, setzt sich fort in Menschen, für die wir Bedeutung hatten, auf die wir gewirkt haben. Sind nicht auf für uns viele wichtig geblieben oder wieder geworden, die als lebende Wesen nicht mehr sind? An die symbolischen Ruhestätten solcher Menschen begeben sich an einem Tag, wie dem heutigen mehr Leute als sonst, um gedankliche Zwiesprache zu halten. Solches Gedenken macht Hoffen, daß auch unser gedacht sein wird dereinst.


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